KOMMENTAR
: Auf zur Hatz

■ Über eine neue Boulevardzeitung für Ostdeutsche

Boulevardzeitungen sind ernst zu nehmen. Man muß heutzutage vielleicht nicht so weit gehen wie vor zwanzig Jahren, als die 68er Bewegung die Triebseite der Wirklichkeit aus der 'Bild‘-Zeitung zu entziffern versuchten. Aber fruchtbar war dieser Ansatz auf jeden Fall. Die Auseinandersetzung mit der Boulevardzeitung durchbrach das traditionelle Rollenschema linker Politik. Nicht um eine Alternative zu den Parteien ging es, sondern um die Massen in einer Umbruchsituation; um ihren Zynismus, weil sie Hoffnung auf Veränderung nur als Chaos erlebt, um ihren Haß auf Minderheiten, weil sie immer vor ihrem Bild kollektiver Ohnmacht steht. Diese Erinnerung an eine vergangene theoretische Anstrengung regt vielleicht an, einer neuen Boulevardzeitung mehr geistige Mühe als die eines schockierten Kopfschüttelns zu widmen. Um so mehr sollte eine Boulevardzeitung ernstgenommen werden, wenn sie speziell den Ostdeutschen angeboten wird. Bekanntlich sind die Verleger Burda/Murdoch in der letzten Woche mit 'Super!‘ gestartet. Noch ist es ein journalistisches Topfschlagen. Mit verbundenen Augen versuchen die Redakteure die wunde Seele des Ossis zu treffen, in der Hoffnung, daß beim lauten Aufschrei der nächste Topfschlag dann trifft. Aber kein Zweifel: wenn die Mischung Erfolg hat, dann ändert sich nicht nur der Zeitungsmarkt, dann ändert sich auch das, was immer so feierlich „politische Kultur“ genannt wird.

Die Mischung ist so simpel wie brutal: Stasi, Stasi, Stasi! Staatsanwalt, übernehmen Sie! Wie die Stasi einen Richter zu Tode quälte. 'Super!‘ jagt die alten SED-Herren. Schalck-Golodkowski und sein Schatz — Dann: Arroganter Wessi mit Bierflasche erschlagen. Thomas Gottschalck verhöhnt die Ossis. — Und sonst: Busen, Lebenshilfe, die Rubrik „So schlecht war es nicht in der DDR“, das „Wut-Telefon“, die „Job-Börse“, die Rechtsberatung. Ob diese Mischung stimmt, steht dahin. Allzu durchsichtig, allzu direkt wird da aufs Ressentiment spekuliert. Die Einbrüche in der Auflage der 'Bild‘-Zeitung deuten so eine Gegenreaktion der Leser an. Aber wenn diese Mischung gelingt, dann haben die ostdeutschen Massen eine Stimme; die eigene Sprache wird dann vollends tonlos geworden sein. Die Boulevardzeitungen werden darum konkurrieren, wer mehr Stasi-Leute in kürzerer Zeit zur Strecke bringt. Die unbewältigte Vergangenheit wird zum Jagdterrain. Und die Ostdeutschen werden zu einer Masse werden, deren Ressentiments, deren Grundgefühl von Deutschen zweiter Klasse die konkurrierenden Blätter immer wieder nähren müssen. Wir werden englische Verhältnisse auf dem Zeitungsmarkt, eine Totschlagjournalistik bekommen, in einer Zeit, in der die zunehmenden ökonomischen Krisen ohnehin die Leute umtreiben. Betrachtet man die Hilflosigkeit der deutschen Innenpolitik, die sozialstaatliche Gesundbeterei angesichts von Massenarbeitslosigkeit, die Beschwörung von kleinen Aufschwüngen angesichts der großen Zusammenbrüche, dann kann man Burda/Murdoch nur recht geben: der Markt ist da. Zwischen der Politik und der Ökonomie klafft ein großes wüstes Feld. Die Demokratie hätte es ausfüllen können oder eben die Hetze. Daß 'Super!‘ so gemacht werden kann, wie es gemacht wird, beweist, daß mit einem Thema jedenfalls nicht mehr gerechnet werden muß: das Thema der Bürgerrechtsbewegung, die es einst, vor einem Jahr nämlich, gegeben haben soll. Klaus Hartung