Ohne Rückfahrkarte zum Attentat auf Schäuble

Prozeß gegen den Schäuble-Attentäter Dieter Kaufmann/ Gutachten bezeichnet ihn als schuldunfähig/ Staatsanwaltschaft fordert die Einweisung in eine psychiatrische Klinik/ Kaufmann: Es war Notwehr — „Ich war so entwürdigt“  ■ Aus Offenburg Erwin Single

„Ich wollte den Mann eigentlich nicht ermorden, ich wollte mich wehren.“ Als „Notwehr“ will er heute seine Tat verstanden wissen; vom „Terrorstaat“ jahrelang „mißbraucht und mißhandelt“, habe er auf seine Qualen aufmerksam machen wollen. Seit gestern muß sich Dieter Kaufmann (37) vor der Schwurgerichtskammer des Offenburger Landgerichts verantworten, jener verwirrte Attentäter, der vor sieben Monaten im Schwarzwaldstädtchen Oppenau Innenminister Wolfgang Schäuble mit drei Revolverschüssen schwer verletzte.

„Ich war so entwürdigt“, zeichnet ein psychisch kranker Kaufmann dem Gericht seine Zwangssituation nach, „gegen wen soll ich mich wehren?“ Das erwartete Urteil steht bereits fest: Wie die Lafontaine-Attentäterin Adelheid Streibel wird auch Kaufmanns Endstation die Psychiatrie sein — sollte das Gericht dem psychiatrischen Gutachten folgen, das dem Schützen paranoide Schizophrenie attestiert und ihn als schuldunfähig ansieht. Für eine Einweisung haben sich bereits sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft ausgesprochen.

Im Brauerei-Gasthof „Bruder“ hatte Schäuble am 12. Oktober vergangenen Jahres — es war der Freitag abend vor dem Landtagswahl- Marathon in den Ost-Bundesländern und Bayern — ein Heimspiel mit tragischem Ende gegeben: Dort hält, vor 280 begeisterten Anhängern seines Wahlkreises, der als erfolgreicher Einigungsvertrag-Manager gerade auf seinem politischen Höhepunkt angelangte Innenminister eine Wahlkampfrede.

Kaum ist die Veranstaltung zu Ende, erhebt sich auf der linken Seite zur Tür hin ein Mann in schwarzer Lederjacke. Er macht einige Schritte auf den bereits am Ausgang stehenden Redner zu, zieht einen Revolver und drückt aus nächster Nähe dreimal ab. Schäuble bricht, an Kopf und Brust getroffen, blutüberströmt zusammen. Zwei Sicherheitsbeamte und einige Veranstaltungsbesucher stürzen sich auf den Schützen, überwältigen ihn. Der sofort in die Freiburger Uni-Klinik eingelieferte Innenminister ringt einige Tage mit dem Tode; ihm bleibt eine Lähmung der Beine.

„Totalhaß gegen den Terrorstaat

In Handschellen abgeführt, gibt der Attentäter Kaufmann noch in der Nacht sein Motiv preis, das er bis heute aufrechterhält: „Ich fühle mich durch den Staat verfolgt.“ In Gefängnis und psychiatrischer Behandlung sei er „physiologisch abgefoltert“ worden; für den „Psychoterror“, dem er sich ausgesetzt gefühlt habe, wollte er sich am für innere Sicherheit zuständigen Minister rächen, den er eigentlich aber für „einen guten Politiker hält“. Doch schon aus dem über hundertseitigen Vernehmungsprotokoll nach dem Attentat ließ sich schließen, daß es sich bei Kaufmann um keinen politisch motivierten Attentäter, sondern um eine „zumindest psychologisch eigenartige Person“ handelt, wie damals Staatsanwalt Werner Botz vorsichtig folgerte. Mit Psychodrogen und Speed, mit Elektrowellen und Lärm, mit sexueller Nötigung, so berichtet Kaufmann, habe ihn der Staat vor allem während seiner Haft im Mannheimer Landesgefängnis gefügig machen wollen. Ständig fühlt er sich von einem „Staatsterrorfunk“ verfolgt, dauernd psychisch und physisch unter Druck gesetzt. „Wenn der Terror nicht aufhört, mach' ich so eine Tat“, habe er sich vorgenommen, „ich war so entwürdigt“. Heute, gesteht der Schäuble-Attentäter ein, würde er seinen Anschlag nicht mehr wiederholen, fügt aber hinzu: „Ich lasse mich nicht unterdrücken und mißbrauchen.“ Bereits im vergangenen Jahr war Kaufmann auf Antrag des Gerichtsgutachters Achim Mechler in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden. Mechlers Diagnose: Kaufmann leide unter einer paranoiden Schizophrenie und krankhaften Wahnvorstellungen.

Die Biographie des Vermessungsgehilfen Dieter Kaufmann aus der Offenburger Nachbargemeinde Appenweier offenbart die Karriere eines Gestrauchelten und Gescheiterten: Er wird als Einzelgänger geschildert, der sich für Politik wenig interessiert und bald in Protestverhalten und Drogenszene abdriftet. Immer wieder verschwindet der rebellische Bürgermeistersohn, der sich nicht in die bürgerlichen Verhältnisse schicken will, von zu Hause. Eine Zeitlang lebt er in der Pfalz, später in Karlsruhe, unterbrochen durch Reisen nach Spanien, Marokko oder Afganistan. Er raucht Haschisch, verkehrt in Drogenkreisen, konsumiert auch harte Drogen. Nachdem ihn auch noch ein Freund bei einem gemeinsamen Kneipenprojekt über den Tisch zieht, kommt bei ihm ein „Totalhaß“ auf.

Auch für die Polizei bleibt Kaufmann kein Unbekannter: Ein Apothekeneinbruch zur Drogenbeschaffung bringt ihm 1973 ein Jahr Jugendstrafe auf Bewährung ein. Im September 1981 wird er, nur mit einer Badehose bekleidet, nachts aufgegriffen und wandert zum ersten Mal in die Psychiatrie. Für ihn ein Schock; er leidet unter Depressionen. Ein Jahr später wird Kaufmann bei einem Versuch, 20 Kilo Haschisch aus Marokko zu schmuggeln, in Spanien festgenommen und dafür in Deutschland 1983 zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.

„Ab da ging es nur noch schief in meinem Leben“, sagt Kaufmann heute. Die Strafe muß er in Mannheim absitzen; zweimal wird er in die psychiatrische Abteilung auf den Hohenasperg verlegt. Völlig ausgepowert, als körperliches und psychisches Wrack wird er nach seiner Entlassung 1986 von seinen Eltern aufgenommen. Er führt ein scheinbar zurückgezogenes Leben und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Im Frühjahr 1990 beschließt Kaufmann — nach der Volkskammerwahl in der DDR, wie er sagt — einen Anschlag, dessen Opfer entweder Innenminister Schäuble oder Kanzler Kohl sein soll. In den beiden Personen sieht Kaufmann die verantwortlichen Repräsentanten des „Terrorstaats“. Am Vortag des Schäuble-Auftritts in Oppenau holt sich Kaufmann einen mit fünf Schuß Spezialmunition geladenen „Smith & Wesson“-Revolver aus dem Jagdschrank seines Vaters; zum Attentat entschlossen, fährt er tags darauf mit dem Bus zum Tatort. Den Fahrschein hat er nur einfach gelöst — der Schütze geht davon aus, bei dem Anschlag „selbst niedergeschossen“ oder zumindest verhaftet zu werden. Auch habe er nicht geglaubt, sagt er dem Gericht, mit den Schüssen die „Folter“ loszuwerden. Für ihn sei es einfach kein Leben mehr gewesen.

Am Ende seiner Schilderungen holt er noch einmal aus: Als gerechtes Urteil würde er akzeptieren, wenn das Gericht seine Notwehrsituation anerkennen würde; nicht er, sondern der Staat sei schizophren. Und zu seinem Opfer, dem an den Rollstuhl gefesselten Wolfgang Schäuble: „Er kann ja noch Kanzler werden.“