Ein Liebhaber des Halbschattens

„Inventar“ von Christian Boltanski in der Kunsthalle Hamburg  ■ Von Kai Voigtländer

Das Herzstück der Hamburger Kunsthalle, der Kuppelsaal, diese eigentlich unbespielbare Rotunde, das pathetische Pantheon der schönen Künste: es leuchtet im Halbdunkeln.

270 kleine Glühlampen werfen ihr warmes Licht diffus auf 142 Schwarzweiß- und Farbfotos, die unregelmäßig über das riesige Rund verteilt sind. Kindergesichter. Jungen und Mädchen jeden Alters, lachende, schüchterne, traurige, erstaunte, gleichgültige, leere Gesichter. Jedes Bild eine Lichtinsel, eine Wärmequelle an der Wand, und der ganze Raum in dämmriges Sakrallicht getaucht: Kirchenkerzenatmosphäre. Schwarze Elektrokabel verbinden die Lichter miteinander, planlos zeichnen sie ein Netz auf die Wand, schnüren kreuz und quer die Bilder zusammen. Monuments: Les enfants de Dijon, so der Titel der Arbeit aus dem Jahr 1986. „Installation und Größe variabel“, vermerkt der Katalog. Noch keiner hat den Kuppelsaal der Kunsthalle so zum Raum gemacht wie Christian Boltanski.

Ein Haufen Lampen, wirr durcheinanderhängende Kabel, ein Stapel kunstloser Kinderfotos: das wirkt auf den ersten Blick, als sei es ungestaltet an die Wand gekommen, von vielen anonymen Händen aufgehängt. Als habe ein kollektives Wirken diese Gemeinde der Namenlosen zusammengebracht. Aber vermutlich hat jedes Lämpchen, jedes Bild einen genau zugemessenen Platz, und Christian Boltanski hat den Abdruck seiner absichtsvoll hängenden Hand nur sorgfältig verwischt.

Die Kinder aus Dijon: Porträtaufnahmen und Paßbildautomatenfotos in verschiedenen Größen, mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Unbekannte Kindergesichter, immer bildfüllend, manchmal ist noch der Hals zu erkennen oder ein Stück Schulter, oft aber nur das Gesicht — Bildausschnitt vom Kinn bis zum Haaransatz. Jede/r hat solche Bilder von sich in der Schublade, alte Paßfotos vom ersten Kinderausweis, ohne Kunstwollen abgelichtet, aber mit sorgfältig gescheiteltem Haar. Dokumente des vergangenen Lebens: So habe ich mit sechs Jahren ausgesehen, so mit zehn. Und dann der kurze Moment des Erschreckens beim Blättern im Fotoalbum: Wieso ist das ich, diese fremde kleine Person? „Man stirbt jeden Tag. Man verliert jeden Moment etwas. Die Kinder aus Dijon etwa, die sind auf den Fotos alle lebendig, und doch hat man das Gefühl, es wären tote Kinder. Das ist aber nicht so. Sie sind nur nicht mehr da. So wie sie auf den Fotos sind, gibt es sie nicht mehr.“ Christian Boltanski: ein Liebhaber des Halbschattens. Leise registriert er den täglichen Tod. Die Monumente sind der erste Teil seiner Serie Lecons de ténèbres („Klagegesänge“).

Er spielt mit dem vanitas-Motiv, der alten Klage über den gnadenlosen Fluß der Zeit, der Suche nach dem Schnee vom vergangenen Jahr. Jedes Leben trägt den Tod in sich: als Lebensverlust, der von Minute zu Minute voranschreitet, unaufhaltsam frißt und vernichtet, Lebenszeit, Körperformen, Gesichter, Stimmungen, Haut und Haare. Anwesend abwesend: Jedes Foto hält einen Lebensmoment fest — und zugleich dessen Verlust. Jedes Foto erinnert an ein Subjekt und ist zugleich Objekt der Erinnerung. „Das Wesentliche der Kunst ist vielleicht das: die Frage nach dem Leben und damit zwangsläufig nach dem Tod, nach der Passage vom Subjekt zum Objekt.“

Christian Boltanski arbeitet vorzugsweise mit Fotos — doch nie, um ein Einzelleben zu dokumentieren. Immer sind es die vielen, die anonyme Menge, deren Porträts und Gesichtszüge vom Schein seiner Bürolampen erhellt werden. „Mich interessiert immer die Masse. Es sind immer tausend Dinge, die ich zusammentrage, oder tausend Leute.“ Die tausendfache Reihung läßt die Konturen der abgebildeten Personen verschwimmen: Das Bild des einzelnen Lebens wird unscharf, das Porträt zum Ornament, das Abbild der Individuation löst sich auf in der Masse von Bildern, die alle das gleiche zeigen: ein einzelnes Gesicht. Im Dämmerlicht seiner Installationen beschwört Christian Boltanski die Aura des Unverwechselbaren, die jedem dieser Gesichter innewohnt, und er läßt sie gleichzeitig darin verschwinden. Was bleibt von mir, der unverwechselbaren Person, der Nummer in der verwalteten Welt? Sanfter Spott und leise Trauer mischen sich in diesem Spiel, das (auch) unser aller Angst spiegelt: vor dem Gesichtsverlust in der Gesellschaft der Lemminge.

Die Assoziation des Religiösen liegt nahe: Erinnerungen an Andachtsbilder und die warm strahlenden Kerzenmeere in katholischen Kirchen, an ewige Lichter auf Friedhöfen, an Begräbnisstätten im Süden: ein Foto auf einer Steinplatte, der Verstorbene in den besten Jahren. Abwesend anwesend. Religiös ist die Arbeit von Christian Boltanski allenfalls in der Trauer über den allgegenwärtigen Lebensverlust. Mit der Praxis der Religionen hat er nichts im Sinn; er zitiert ihre Atmosphären und lädt seine Inszenierungen kultisch auf. Dem christlichen Abendland leuchtet er zur postreligiösen Dämmerstunde heim. „Meine Arbeit soll auf der Grenze sein, wie eine Kerze, die von einem Moment zum nächsten verlöschen kann.“ Alles kann verschwinden, jederzeit: verschwommen, unscharf und undeutlich die Gesichter, oder überstrahlt vom grellen Schein einer Bürolampe, die direkt auf sie gerichtet ist. Ironische Ikonen: Noch ist die Individuation nicht ausgelöscht. Noch nicht. Alles bleibt vage auf dieser Grenze zwischen Dämmerlicht und Nacht: ein Schatten huscht über die Wände, eine sich drehende Drahtfigur läßt verzerrte Vexierbilder durch den Raum gleiten. Les Ombres: Les Anges, 1986. L'ange d'alliance et L'ange de la mort („Die Schatten: Die Engel. Der Engel der Einigkeit und Der Engel des Todes“).

Der leuchtende Kuppelsaal: Er ist Zielpunkt und Ende des Weges, den Christian Boltanski in der Kunsthalle aufgebaut hat. Denn die Altäre, Monumente und Archive, die langen Reihen der Bilderrahmen und Vitrinen, die Mauern und Wände aus Blechkisten, die Bürolampen und Metallgitter sind nicht nur als Einzelstücke sorgfältig arrangiert — die Ausstellung zeichnet einen Weg durch das ganze Inventar des französischen Künstlers, durch sein trauriges Museum der Erinnerung. Seinen Anfang nimmt dieser Weg in der Eingangshalle — vor die großzügige Freitreppe, die zu den Sammlungen führt, hat Boltanski eine schmale Gasse aus 1.300 Blechkisten gesetzt, präzise aufeinandergestapelt zu zwei übermannshohen Mauern. Der Gang durch die Gasse ist versperrt: auch an der Stirnseite empfängt den Betrachter eine Wand aus blechernen Keksdosen; alle tragen Spuren von Gebrauch und Verwitterung. Réserve: Les Suisses morts, 1990. („Reserve: Die toten Schweizer“). Auf jeder Kiste innen ein kleines Porträtfoto: Männer und Frauen in den besten Jahren, viele lachend. Bilder, nicht von Toten, aber von inzwischen Verstorbenen, ausgeschnitten aus Todesanzeigen in Schweizer Zeitungen. Von oben her leuchten schwarze Schreibtischlampen.

Auch diese Installation mit ihren kafkaesken Schubladentürmen, die Archiv und Grabkammer, Gruft und Aktenschrank ineinander denkt, ist von irritierender Vieldeutigkeit: sie macht den menschenfressenden Schrecken spürbar, der von allen Archiven ausgeht, allen Karteikästen und Datensammlungen. Und sie macht neugierig: denn verschlossene Blechkisten wollen geöffnet werden. Was mag da drin sein? Geheimnisse, kindliche Privatreliquien, die Spuren vergangener und längst abgelebter Freuden? „Viele kannten als Kinder solche Keksdosen: in Frankreich hat man sie oft weiterbenutzt, um darin Spielsachen wegzuräumen, oder man hat seine Schätze darin versteckt.“ Die Keksdosen und die Fotos der toten Schweizer bilden eine suggestive Einheit. Ganz automatisch die Vermutung, irgend etwas von diesen Menschen müsse sich in diesen Blechkisten befinden: ein paar persönliche Habseligkeiten, eine goldene Uhr vielleicht, Münzen und Geldscheine, Kugelschreiber, ein Brillenetui, ein Brief. Ein kleiner Schritt nur ist es von hier aus, ein Gedanke, eine Abschweifung des Blicks: und schon ist man bei den Kleiderkammern, den Schuhbergen, den Taschenstapeln, den Brillenhaufen, den Leichenbergen. Bei all den Bildern aus den sorgfältig geführten Archiven der SS.

Man muß das nicht denken und sehen. Christian Boltanskis Arbeiten drängen sich nicht mit Bedeutungen auf, setzen keinen flachen Automatismus des Gedenkens in Gang. Ihre Stärke ist ihre Uneindeutigkeit. Und ihre Diskretion. „Ich glaube, ein Künstler wird die anderen, er wird jedermann anderer auf verschiedene Weise. Ein Kunstwerk muß eine gewisse Undefinierbarkeit haben; damit jeder daran seine eigenen Geschichten, seine eigenen Erinnerungen festmachen kann. Ein gutes Kunstwerk besteht zu drei Vierteln aus den Emotionen dessen, der es anschaut.“

Im Vorraum des Kuppelsaals — wie in allen anderen Räumen herrscht auch hier das Dämmerlicht— hängt eine ganze Wand voll mit Kleidungsstücken: Röcke, Mäntel, Jacken, Hosen, bunte Stoffe dicht an dicht bis unter die Decke. Réserve: Canada, 1988. Installation und Größe variabel. In Basel hatte Boltanski 1989 die Kleider auf dem Museumsboden ausgebreitet: Wer die Ausstellung sehen wollte, mußte die Kleidungsstücke betreten — und versank in der Weichheit der Stoffe, als ginge er über Körper. Anwesend, abwesend, das gleiche Spiel: Auch ein Kleid bewahrt Spuren, Gerüche, Falten. Als Objekt erinnert es an den abwesenden Körper, der es getragen hat. An welche Toten erinnern Boltanskis Kleiderwände, Kleiderhaufen, Kleiderstapel?

Auch hier sind die Schatten der Assoziation nicht fern. Es ist gut, daß der leuchtende Kuppelsaal den Schlußpunkt der Ausstellung markiert. Von hier aus, vom Ende her, fällt immerhin ein wenig LIcht in die düsteren Kabinette des Christian Boltanski.

Die Ausstellung Inventar von Christian Boltanski ist noch bis zum 9.Juni in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Der Katalog, dem alle hier zitierten Äußerungen entnommen sind, ist schön anzusehen, sorgfältig und lesbar gestaltet. Er enthält u.a. ein Interview mit dem französischen Künstler und kostet 48DM.