: Das Kittlersche Trainingslager
■ Das »Ponton European Media Art Lab« im Berliner Club »90 Grad«
»Feeling man shoots,
thinking man edits.« (NJP)
Offenbar sind die Leute mit ihrer motorischen, sensorischen und intellektuellen Ausstattung gar nicht dafür gebaut, hochtechnische Kriege zu führen. Seit dem Ersten Weltkrieg zwingen Geschwindigkeit und Beschleunigung zur Einrichtung spezieller Trainingslager, die den langsamen Leuten neue Wahrnehmungsformen beibringen und ihnen die Mensch-Maschine-Synergie nachgerade verordnen. Das fing mit der Armbanduhr von 1914 an und wird mit den Kampfpilotensimulatoren von heute nicht enden. (...) In Zwischenzeiten, also wenn der Krieg nicht als Echtzeit läuft, übernehmen wahrscheinlich Rockkonzerte oder Discotheken die Rolle solcher Trainingslager für Wahrnehmungen, die die Wahrnehmungsschwelle unterlaufen«, raunt Friedrich Kittler.
Die von ihm angesprochenen Trainingslager sind mittlerweile allerorten anzutreffen. Manche nennen sich einfach »Techno-Party« und warnen in Einladungsschreiben verheißungsvoll vor Musik, die den Hirnwellenrhythmus verändere und so psychedelische Erfahrungen möglich mache. Getreu einem medientheoretischen Credo Marshall McLuhans, gibt man sich bei den Veranstaltungen einer umfassenden medialen Massage hin. Der Körper wird zur Schnittstelle, mit dem Aufblitzen grell leuchtender Videobilder und dem Wummern baßlastiger Beat- Boxen synchronisiert. Das erhabene Sperrfeuer, um der Kittlerschen Wortwahl zu folgen, ist nicht mehr Stahlgewitter, sondern ein elektronischer Impulssturm.
Einen solchen wird das »Ponton European Media Art Lab« heute abend im Nachtclub »90 Grad« entfesseln. Die Hamburger Gruppe hat sich bereits mit Aktionen wie Van Gogh TV oder der — die letztjährige »Ars Electronica« in Linz begleitende — interaktiven Fernsehspielshow Hotel Pompino ins Bewußtsein einer an Medienkunst interessierten Öffentlichkeit gesendet. Auch bei Ballroom TV, so der Titel in Berlin, werden Fernsehen und Interaktion zentrale Motive sein, doch erstmals liegt das Hauptinteresse der Gruppe nun auf den der Musik innewohnenden Strukturierungsmöglichkeiten. »Entgegen unseren früheren Projekten steht diesmal der Ton im Vordergrund. Der Ton bestimmt das Bild. Der Rhythmus der Musik bestimmt den der Bilderflut«, führt Karel Dudesek aus. Entsprechend werden professionelle DJs eine Klangstruktur entwerfen, an der sich der visuelle »Live-Mix« von »Ponton« orientiert und entlang bewegt.
Es ist dieser visuelle Mix, der Ballroom TV von den eher konventionellen Trainingslagern in medialer Massage und Echtzeit-Mensch-Maschinen-Synergie unterscheidet. Während sich letztere beschränken, die Gäste mit Megawattleistungen vor Ort zu stimulieren und zu »schaffen«, legt es Ballroom TV darauf an, auch virtuelle Welten mit dem Partybrand zu infizieren. Die Veranstaltung wird vom Kabelsender FAB live übertragen, die ZuschauerInnen vor dem heimatlichen Fernseher haben die Möglichkeit, sich über Telefon in das Geschehen im »90 Grad« einzuschalten. Außerdem wurden an verschiedenen Orten in Berlin, bei Privatpersonen, aber auch in anderen Nachtclubs, Bildtelefone installiert. Sie erlauben, eine Sequenz von Standfotos zu senden, Material, das sofort in den visuellen »Live-Mix« im »90 Grad« integriert werden kann. Schließlich plazierte man in verschiedenen Computer-Mailboxen einen Hinweis auf die Veranstaltung — und nach Karel Dudeseks Erfahrung sind es diese elektronische Foren frequentierenden Computer-Freaks, die als erste auf ein solches Angebot zur Telepräsenz einsteigen und »irgendwelche Sprüche übers Modem hacken, hacken, hacken«. Auch die so die Disco erreichenden Texte und Kommentare können direkt dem Taumel ständig wechselnder Bildflächen zugeführt werden.
Dem wird vor allem das Publikum im »90 Grad« ausgesetzt sein. Und ihn gleichzeitig speisen. Das Umtun auf der Tanzfläche, das Gedränge an der Theke, die geladenen Selbstdarsteller: all dies ist Bildmaterial für den »Live-Mix«, wird von Kameras aufgenommen und über Monitore und Videowerfer dem Geschehen wieder zugeführt. Wird aber die ständige mediale Repräsentation die Ereignisse aufheizen, das Publikum zum Brodeln bringen, oder werden die Gäste von der Ansicht der elektronischen Bildmutationen, der Phantome und Chimären so gelähmt, daß sie starr vor Staunen stehen, derweil um sie herum die Maschinen toben? Dazu noch einmal Karel Dudesek: »Wir können nicht an einem Abend innerhalb weniger Stunden die Tradition von vierzig Jahren medialer Volksverdummung aus dem Bewußtsein der Leute bringen. Fernsehen will die Leute ja abhängig und passiv halten. Vermittelt so ein Gefühl von Nähe und Schuld, wegen der Verantwortung für diese Zustände/ Bilder in der irrealen Nähe. Doch die Zuschauer im Wohnzimmer haben nicht einmal Kontrolle über die Produktion der Bilder. Nun, das können sie bei unseren Projekten lernen. Statt fern-sehen dabei-sein. Das geht nicht schnell, und manchmal erschrickt man über die Banalität der Vorschläge, die kommen.« Salvatore Vanasco ergänzt: »Wir wollen TV-Produktionsorte als öffentliche Räume. Die Medienwelten sind heute die Wirklichkeit. Wir stellen unterhaltende Situationen her, in denen das Publikum diese Wirklichkeit interagierend erfahren kann.«
»Diese Wirklichkeit« hat einen Namen bekommen, man nennt sie »virtuelle«, mögliche, latent vorhandene. Wo aber die Pioniere versuchen, den menschlichen Körper komplett in elektronische, mediale Räume zu versetzen und ihn dort als Doppelgänger-Simulation agieren zu lassen, da enthebt »Ponton« ihn nicht der »hiesigen Welt«. »Das Physische ist ein wesentliches Moment unserer Arbeit, war es schon bei — Delta t. Es gehört mit zu unserer Idee von einer Humanisierung der Medien, daß wir den Leuten die Möglichkeit bieten, diese Spannung zwischen physischer und virtueller Präsenz wahrzunehmen und damit zu spielen. Es wird eine »blue box« geben, d.h. einen Raum, in dem man sich ganz normal bewegt, dessen gesamte Ausstattung jedoch virtuell, im Rechner und auf dem Bildschirm ist. Über einen Monitor kann wie über einen Spiegel verfolgt werden, in was für einer Wirklichkeit man sich gerade befindet, und kann sich dementsprechend orientieren und verhalten. Das ist ein Moment der Reflexion, das bei den ‘echten‚ ‘VR‚-Projekten völlig fehlt, da hangelt man sich ohne irgendwelche Erinnerung ans Physische durch die Maschinenträume.«
Welche, um zum Kittlerschen Eingangszitat zurückzukehren, die langsamen Leute zu synchronisieren. In einem Trainingslager... R. Stoert
Heute nacht ab 23 Uhr im »90 Grad«, Dennewitzstraße 37, Berlin 61. Für die Freunde der Telepräsenz hier noch die Telefonnummern: 2628984 für die AnruferInnen und 2626928/-29 für die Mailbox-TeilnehmerInnen.
Die Freunde der physischen Präsenz zahlen 15 DM Eintritt.
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