Jugoslawiens Staatspräsidium entschärft Lage

■ Fünf-Punkte-Erklärung fordert Auflösung der Milizen und Reserven/ Armee wird als Puffer eingesetzt/ Gefahr der Proklamation des Ausnahmezustands noch nicht beigelegt/ Armee ist selbst gespalten/ Risiken der Armeeintervention

Berlin/Beograd(ap/taz) — Einstimmig hat das jugoslawische Staatspräsidium, das auch als kollektiver Oberbefehlshaber der Volksarmee fungiert, am Donnerstag morgen einen Fünf-Punkte-Katalog beschlossen, der die akute Bürgerkriegssituation entschärfen soll. Wichtigstes Ergebnis: Der Forderung von Teilen der Armeeführung nach Proklamation des Ausnahmezustands wird nicht nachgegeben. Die Armee soll als „Puffer“ zwischen den überwiegend von Serben bewohnten Landesteilen Kroatiens und den anderen Teilen der Republik stationiert werden, in den kroatischen Konfliktregionen dürfen mit Ausnahme der lokalen Polizeikräfte keine weiteren bewaffneten Einheiten agieren. Die Einheiten der kroatischen Reservepolizei müssen demobilisiert werden, die kroatischen Bürger der Armee ihre Waffen abgeben. Übergriffe auf die jugoslawische Armee sind sofort zu beenden, zur Klärung der Mordtaten der letzten Woche wird eine sofortige Untersuchung eingeleitet. Für Kroatien ist der Beschluß des Staatspräsidiums insofern akzeptabel, als die Regierung Tudjman und die Öffentlichkeit selbst nach einer Armeeintervention gerufen hatten, um den Belagerungsring rund um die inmitten eines serbischen Siedlungsgebiets gelegene Ortschaft Kijewo zu sprengen. Unabhängig davon, daß die Bundesarmee in Kroatien zunehmend als Besatzung empfunden wird, sind die Stellungnahmen zum Verhalten der Armee je nach Sachlage unterschiedlich. Während der Standortkommandant in Knin als serbischer Chauvinist und Verbündeter der „irridentistischen“ Kniner Republik attackiert wird, sind die Aktionen der Armee nach dem Blutbad von Borovo Selo, wo letzte Woche von serbischen Nationalisten kroatische Polizisten getöten wurden, von der kroatischen Öffentlichkeit gebilligt worden.

Die jugoslawische Armee ist angesichts der Staatskrise selbst gespalten. In der Armeeführung gibt es ein leichtes Übergewicht der Serben, während das Offizierskorps im „Mittelbau“ serbisch dominiert ist und die Positionen von Milosevic unterstützt. Einflußreich sind auch die pensionierten Generäle, die in der „Bewegung für Jugoslawien“ organisiert sind und der Vorstellung eines titoistisch geprägten Realsozialismus, mithin einer starken Zentralgewalt anhängen. Scharfmacher des Milosevic-Lagers in der Armee ist der Generalstäbler Adzic, der besonders nachdrücklich den Ausnahmezustand gefordert hat. Sein Chef, Verteidigungsminister Vejko Kadijewic, schwankt, unterhält aber Verbindungen zum Lager Ante Markovics, der eine demokratisch erneuerte Föderation befürwortet. Die Ideologie des Partisanenkampfs, die lange Zeit die Volksarmee beherrschte und ihr in der Bevölkerung eine Legitimationsgrundlage verlieh, ist mittlerweile angeschlagen. Einmal, weil die Grausamkeiten der Volksarmee gegenüber wirklichen oder vermeintlichen Kollaborateuren während des Krieges bzw. danach jetzt offengelegt werden, vor allem aber, weil die aus der Partisanenerfahrung geborene Volkskriegs- Konzeption Titos durch die Nationalitätenkämpfe selbst obsolet geworden ist. Noch die Verfassung von 1974 sah in Bürgerbewaffnung und Territorialverteidigung die Pfeiler der Landesverteidigung. Jetzt sind die Territorialmilizen entwaffnet, oder zumindest wird von der Armeeführung ihre Entwaffnung gefordert. Unterlägen doch diese Bürgermilizen und deren Reserven der Hoheit der Einzelrepubliken. Für die Armee gilt: Einheitsstiftend war das Regime Titos und die Bedrohung durch die Sowjetunion. Beide Faktoren sind dahin.

Wird die Armee trotz des Fünf- Punkte-Beschlusses von sich aus den Ausnahmezustand verkünden? Am 15. Mai wechselt turnusgemäß der Vorsitz im Staatspräsidium an Kroatien, in Bosnien-Herzegowina wird ab diesem Zeitpunkt ein Bosniake seine Republik vertreten. Wenn der serbisch-nationalistische Flügel in der Armee ein Placet des Präsidiums für einen Putsch will, muß er sich beeilen. Auf wieviel loyale Truppen die Anhänger des Ausnahmezustands zählen können, ist völlig ungewiß. Sie würden auf alle Fälle in Kroatien und Slowenien, die ein Beistandsabkommen geschlossen haben, auf entschiedenen Widerstand treffen. Christian Semler