Das Objekt der Begierde wird immer obskurer

Am Wochenende beraten die EG-Finanzminister erneut über die Europäische Zentralbank/ Je früher das Prestigeobjekt installiert wird, umso mehr wird es zur Mogelpackung/ Allerlei Handlungszwänge für die Politik — aber die Volkswirtschaften der Mitgliedsländer mögen sich einfach nicht danach richten  ■ Von Dietmar Bartz

In Frankfurt am Main sind sie besonders schnell: Dort stehen bereits zwei Grundstücke zur Auswahl. Aber auch London rührt fleißig die Werbetrommel, um die renomméeträchtige Institution an der Themse anzusiedeln. Es geht nicht etwa um ein neues Euro-Hauptquartier von Mitsubishi oder IBM — das Objekt der Begierde ist ungleich obskurer. Denn wann die Europäische Zentralbank, an deren Ansiedlung den Stadtvätern und -müttern so sehr gelegen ist, tatsächlich gegründet wird, steht noch in den Sternen.

Und ob sie überhaupt je das Licht der Welt erblickt? Allenfalls kommunalpolitisch wäre das Scheitern der Idee von der Wirtschafts- und Währungsunion — und damit der Euro-Zentralbank — zu verkraften. Ganz anders sähe es aber europa- und globalpolitisch aus: Der Scherbenhaufen wäre gewaltig.

Denn mit der Europäischen Zentralbank (EZB) steht und fällt auch die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), jedenfalls so, wie sie bislang konzipiert ist. Während die seit dem letzten Dezember einberufene Regierungskonferenz über die Wirtschaftsunion eine „offene Marktwirtschaft“ und auch solch hehre Ziele wie Umweltschutz und Beschäftigung verhandelt, hat die parallele Regierungskonferenz über die Währungsunion ungleich konkretere Aufgaben: Mehrheitlicher Wille der Verhandler ist es, eine EZB zu installieren, die womöglich noch in den neunziger Jahren als Ersatz für die nationalen Währungen das einheitliche EG-Geld Ecu ausgeben wird.

Damit wäre beim Überschreiten der Grenzen innerhalb der EG der lästige Gang in die Wechselstuben nicht mehr nötig. Für die im- und exportierenden Unternehmen ist der Wegfall der Transaktionskosten allerdings ungleich bedeutsamer — sie können in Einzelfällen durchaus ein oder gar zwei Prozent des Warenwertes ausmachen.

Darin sind allerdings auch die Kosten für die Absicherung gegen Wechselkursschwankungen enthalten, die auch innerhalb der EG durchaus noch eine Rolle spielen. Zwar dürfen die meisten EG-Währungen nur noch um 2,25 Prozent von ihrem Leitkurs abweichen, aber eine so wichtige Währung wie das britische Pfund hat mit seinem Beitritt zum Europäischen Währungsystem eine Schwankungsbreite von sechs Prozent erhalten — lästiges Hindernisse für Handelsgeschäfte, Investitionen sowie für die ungeschmälerte Heimführung von Gewinnen.

Und schließlich dürfte die Ecu, wenn es sie dereinst gibt, nicht wesentlich schwächer sein als jetzt die D-Mark, die als „Stabilitätsanker“ das Europäische Währungssystem dominiert. Kaum zu bezweifeln ist, daß die Bundesbank bei ihrem Ansinnen bleibt, die Geldwertstabilität, also niedrige Inflationsraten, zum Hauptziel der EZB-Politik zu machen — Voraussetzung für das anhaltende Wirtschaftswachstum, das auch als Zielvorgabe für die Wirtschaftsunion formuliert wurde.

Würde der EZB- oder allgemeiner der WWU-Plan scheitern, spielten diese Kosten der Nichtverwirklichung allerdings nur eine Nebenrolle. In seinen politischen Auswirkungen hingegen wäre das Scheitern kaum zu unterschätzen.

Denn nachdem die Wirtschaft ihren Binnenmarkt bekommt, steht die WWU auch für ein „Aufholen“ der Politik. Wenn die Politische Union als Fernziel der europäischen Integrationsbemühungen akzeptiert wird, ist als Vorstufe eine Wirtschafts- und Währungsunion kaum zu umgehen, die wiederum eine Euro-Zentralbank braucht, wenn sie ihrem Namen gerecht werden soll. Solange die EG nur ökonomisch homogenisiert wird und nicht auch politisch, ist nicht mit steigender Akzeptanz in der Bevölkerung zu rechnen — das Wort vom „Europa der Konzerne“ behielte seine Berechtigung.

Die sinnliche Erfahrung „Europa“, mit dem albernen einheitlichem Führerschein und Paß kaum herzustellen, wird wohl erst mit dem einheitlichen Geld zu erreichen sein. Und nicht nur eine nachholende „Politisierung“, sondern auch die Demokratisierung der EG wird immer dringlicher — doch die Parlamentsreform steckt noch immer in den Anfängen.

Zu den Legitimationsdefiziten nach innen kommen solche nach außen. Zur Untermauerung des Anspruchs, auch als politische Weltmacht aufzutreten, braucht die EG die Politische Union. Das Versagen der EG, im Golfkrieg einheitlich aufzutreten, hat gezeigt, wie groß etwa die außenpolitische Divergenz innerhalb der zwölf Mitgliedsländer ist. Direkt hängt — nach der Logik der EG — ihre langfristige politische Glaubwürdigkeit, sei es im Gatt oder im Nahen Osten, unbedingt von einem System innereuropäischer Konsense ab, die im Prinzip sogar die Militär- und Verteidigungspolitik zu umfassen hätte. Glaubwürdigkeit läßt sich aber nur herstellen, wenn zunächst die Hausaufgaben gemacht sind — und zu denen gehört eben die Wirtschafts- und Währungsunion. Platzt wiederum die WWU, könnte sich auch die seltsame Mischung aus Euro-Idealismus und Euro-Opportunismus auflösen, die derzeit immer noch in den meisten Regierungen der Mitgliedsstaaten herrscht. Dann würde die Integration schlichtweg steckenbleiben.

Politische Gründe, die WWU durchzusetzen, gibt es für die Beteiligten also mehr als genug. Und es gibt sogar einen Zeitplan, an dessen Ende die EZB stehen soll: Seit dem 1. Juli 1990 ist die erste Stufe in Kraft, innerhalb der alle EG-Währungen dem Europäischen Wechselkurssystem beitreten und die Kapitalverkehrskontrollen fallen sollen. Zugleich sollen deutliche Fortschritte bei der Konvergenz, der Angleichung der nationalen Wirtschaftspolitiken mit ihren unterschiedlichen Inflationsraten und Haushaltsdefiziten, erreicht werden. Die zweite Stufe beginnt dann genau am 1. Januar 1994 und dient als Übungsphase, bei der die nationalen Zentralbanken ihre Koordination und Kooperation so weit steigern, daß die EG-Währungen untereinander nicht mehr schwanken. Drei Jahre später, 1997, wird dann geprüft, ob die Vereinheitlichung tatsächlich hinreicht, um den letzten Schritt zu machen: die unwiderrufliche Aufgabe eines Stückes nationaler Souveränität, die Übertragung der Geldkompetenzen auf die EZB. Denn wenn die Währungen ohnehin in festem Wechselkursverhältnis zueinander stehen, können sie gegen die Ecu ausgetauscht werden.

Nun gibt es eine Fülle von Streitpunkten über einzelne Elemente des Planes. Bekommt die EZB tatsächlich die Unabhängigkeit, die die Bundesbank kategorisch zur Voraussetzung ihrer Teilnahme macht, oder bleiben trotz aller schönen Worte Schlupflöcher, durch die die nationalen Regierungen politischen Einfluß nehmen können? Soll eine „schwächere“ Variante der EZB mit weniger Kompetenzen bereits in der zweiten Phase gegründet werden? Soll die zweite Phase schon eingeläutet werden, auch wenn noch keine hinreichende Konvergenz besteht? Wie schnell gibt, weil sich damit die Geldmenge nicht steuern läßt, die britische Regierung ihr Ausweichangebot auf, eine „harte Ecu“ als Parallelwährung einzuführen?

Diese Streitpunkte, nur vier unter mehreren, werden den Politikern noch auf längere Zeit erhalten bleiben. Ganz abgesehen davon, daß — über die immanenten Probleme hinaus — die wirtschaftliche Anpassungsleistungen innerhalb der EG ausgerechnet von den schwächeren und nicht von den stärkeren Volkswirtschaften zu leisten sind.

An einem Sachverhalt jedoch ändern alle Diskussionen nichts: Es ist fast unmöglich, zwölf so unterschiedlich strukturierte Volkswirtschaften wie die der EG unter einen Hut zu bekommen. Allein die Inflationsraten reichen derzeit von 2 bis 20 Prozent, es gibt ausgeglichene Haushalte und solche, die extrem hoch verschuldet sind. Auch die Zinssätze weichen stark voneinander ab, und ebenso groß sind die Produktivitätsunterschiede innerhalb der EG.

Chaotisch wären die Folgen, wenn von einem auf den anderen Tag die EZB gegründet und die Ecu eingeführt würde. Das anlagesuchende Kapital innerhalb der EG würde sich sofort in die Regionen aufmachen, in denen es nun die höchsten Gewinnerwartungen gibt — die ohnehin schon reichen Länder. Die Lockzinsen, mit denen es bislang im Land gehalten wurde, wären nicht mehr möglich, Kapitalverkehrsbeschränkungen innerhalb eines Währungsgebietes sind unsinnig. Eine schlagartige Entkapitalisierung und Entindustrialisierung der ohnehin ärmsten EG- Länder wäre die Folge, wenn nicht mit Transferleistungen der EG die Geldversorgung verbessert und die Produktivität in den Fluchtgebieten erhöht würde. Kurz: Je weniger konvergent also die wirtschaftliche Entwicklung in der EG verläuft, umso teurer wird eine Währungsunion.

Kein Wunder also, daß es in den Hartwährungsländern mehr und mehr PolitikerInnen gibt, die ein Europa der zwei Geschwindigkeiten kommen sehen: Eine Kern-WWU aus der Bundesrepublik, den Benelux-Staaten und Frankreich, und drumherum eine Peripherie, die sich nach und nach, wie beim Beitritt zur EG und zum Europäischen Wechselkurssystem, dem Kern anschließt. Doch auch dagegen gibt es haufenweise politische Einwände: Zum einen würde die Dominanz von D-Mark und Bundesbank in dieser „kleinen“ Währungsunion noch größer, vor allem aber wäre dies innerhalb der Gesamt-EG nicht zu machen. Kein Wunder also auch, daß der vorgebliche Streit um die Termine ein Streit um die Stärke der EZB und damit im Prinzip gegen das Konzept der Bundesbank ist. Je schneller sie kommt, umso weniger wird die EZB ihren Namen verdienen; hier versagt die oft geübte Praxis, durch die politische Festlegung von Terminen Handlungsdruck zu erzeugen. Und kein Wunder wäre es dann auch, wenn die Stadtväter und -mütter von Frankfurt und London nach langem Warten ihre Grundstücke lieber an Mitsubishi oder IBM verscheuern würden als an eine — Mogelpackung.