piwik no script img

Die Kinder singen Röslein auf der Heiden

■ Kurosawas „Rhapsodie im August“

Vier artige Kinder verbringen ihre Sommerferien bei der Großmutter, nicht weit von Nagasaki, und stellen Fragen an die Geschichte. Der Anfang ist idyllisch wie aus dem Kinderfunk. Die Eltern der Kinder sind in Hawaii, wo sie einen verschollen geglaubten Bruder der Großmutter besuchen. Die Kinder möchten die Großmutter zur Hawaii-Reise überreden. Aber sie kann sich gar nicht an ihren Bruder erinnern. Sie hatte zu viele Brüder, zu viele sind tot. Sie hat eine Glatze. Auch ihr Mann ist vor langer Zeit gestorben, am 9.August 1945, um 11.02 Uhr, beim „großen Blitz“. Die Großmutter erklärt telegrafisch ihre Einwilligung zur Hawaii- Reise. Aber sie wolle erst den Jahrestag des Bombenabwurfs abwarten. Die Eltern kehren zurück. Ein Sohn des Großonkels — gespielt von Richard Gere — kommt nach. Er ist durchaus nicht beleidigt über den Hinweis auf die Bombe, sondern bekennt seine Erschütterung. Die Kinder singen ihm ein Lied vor, Schuberts Röslein auf der Heiden, nach Goethe in japanischer Übersetzung — diese total abgenudelte und trotzdem immer noch berückende Melodie: Versöhnung. Aber der Film endet anders. Es ist, als würde er am Ende von der Erinnerung, die in den Zeremonien zugleich wachgehalten und domestiziert werden soll, schließlich überwältigt. „Ich war selbst überrascht“, sagt Kurosawa in der Prssekonferenz, „mit welcher Wucht die Atombombe in den Film eindringt.“ Der Onkel ist nach Hawaii zurückgeflogen. Ein Gewitter zieht auf. Die sehr alte, zarte, glatzköpfige Großmutter greift sich einen lächerlich kleinen Regenschirm und rennt los — Richtung Nagasaki, um ihren Mann vor dem Blitz zu retten. Die Kinder und die Eltern rennen hinterher, jeder für sich, straucheln, rennen weiter, aus Leibeskräften. Aber sie können die Großmutter nicht einholen. Sie rennt und rennt, stemmt sich gegen den Regen. Längst ist ihr Schirm umgeknickt. Ganz laut, von einem quäkenden Kinderchor gesungen, wird das Lied eingeblendet: „Sah ein Knab ein Röslein stehn...“, in Japanisch. „Der fünfzigste Jahrestag der Bombardierung von Pearl Harbour steht bevor, und Kurosawa schießt eine Rakete gegen Amerika ab“, schrieb die 'Washington Post‘ vor ein paar Wochen — die US-Presse hatte den Film vorher sehen dürfen. Manche Amerikaner würden Kurosawas Botschaft — in der kein bißchen Ranküne mitschwingt — wohl nur vertragen, wenn er Hiroshima und Nagasaki als Strafe für eigene japanische Sünden verkleidet hätte. Die wilde Entrüstung, die gegen Rhapsodie im August losbrach, verdient nur, selbstgerecht, anmaßend und heuchlerisch genannt zu werden. Der Film ist genau so, wie er sein muß, und er ist ergreifend. Thierry Chervel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen