AMADEUS ABGESPECKT

■ Das Kunstwerk im Zeitalter fraktaler Reproduzierbarkeit

Seltsame Attraktoren, Apfelmännchen, die endlos mäandernden Strukturen der Mandelbrot-Graphiken — direkt vom Labortisch der Mathematiker weg ist die fraktale Geometrie in den letzten Jahren zu einem Kult- und Kunstobjekt geworden. Doch es ist nicht nur die erst mit dem Computer-Auge sichtbare Schönheit der Fraktale, die für die schnelle Akzeptanz des Chaos-Paradigmas sorgt. Es ist auch ein verschüttetes Natur- und Weltverständnis, dessen dumpfe Ahnungen die Ideen der Chaos-Theorie so selbstverständlich machen: Die Vorstellung, daß große, komplexe Strukturen — der Makro- Kosmos — aus kleinen Einheiten aufgebaut sein könnte, von denen jede einzelne — als Mikrokosmos — die Struktur als Ganzes widerspiegelt. So hatten nicht nur schon die Hermetiker im alten Ägypten und ihr Schüler Pythagoras gedacht, sondern auch die Gelehrten und Alchemisten des Mittelalters, deren erstes Gesetz „Wie oben, so unten“ durchaus als avancierte Chaos- Formel gelten kann. Die Wiederentdeckung des Chaos als Grundbedingung von Ordnung ist zweifellos mehr als die populärwissenschaftliche Mode, als welche hartnäckige Mechanisten den Einbruch der Unordnung in ihr Uhrmacherweltbild abtun möchten — als faszinierendes Werkzeug der Naturbetrachtung wird die Geometrie der Fraktale längst mit den beiden wissenschaftlichen Groß-Revolutionen des Jahrhunderts, Relativitätstheorie und Quantenmechanik, verglichen. Daß sie tatsächlich in der Lage ist, Rätsel zu lösen, zeigt eine aufsehenerregende Entdeckung, die zwei Schweizer Wissenschaftler unlängst gemacht haben: die fraktale Struktur der Musik.

Kenneth Hsü, Geologe an der Technischen Universität in Zürich, und sein Sohn Andrew, Musiker am dortigen Konservatorium, haben eine Technik entwickelt, mit der Musik in ihre Grundkomponenten zerlegt werden kann. Bei dem mittlerweile patentierten Verfahren werden bestimmte Kompositionen, etwa von Bach oder Mozart, auf 1/64 der Originalnoten „abgespeckt“ — es entstehen winzigen Einheiten, die aber die Struktur der Gesamtkomposition reflektieren. Die beiden De-Kompositeure meinen, daß Kaiser Franz Joseph mit ihrer Arbeit zufrieden sein müßte: diesem hatte die Uraufführung der Mozart-Oper Die Entführung aus dem Serail seinerzeit zwar gefallen, er bemängelte aber, daß zuviele Noten darin gewesen seien. Die Fraktalforscher sehen in ihrer neuen Methode mehr als nur eine akademische Übung in musikalischer Ökonomie — das Fraktal Mozart kann dazu verwendet werden, neue Musikstücke zu generieren, keine Originale, aber Kreationen in unendlicher Zahl und von perfekter Selbstähnlichkeit, die alle die Essenz des echten Mozart enthalten.

Wie ein aus einfachen Rechenschritten bestehendes Fraktal durch simple Wiederholung eine hochkomplizierte Gesamtstruktur hervorbringt — so kann aus dem musikalischen Skelett ein neuer Kompositionskörper entstehen. Die Entdecker vergleichen es mit einer klassischen Schacheröffnung, die die Struktur des folgenden Spiels fundamental festlegt, aber dennoch eine unüberschaubare Vielzahl von Variationen eröffnet. Der 'New Scientist‘ (Nr. 1.767) schreibt dazu: „Die Hsüs behaupten nicht, das sie das Geheimnis aller Musik geknackt haben, allenfalls sei hier der Anfang eines Verstehens. Große Musik, meinen sie, müßte die Struktur eines großen Gebäudes haben. Bis zu welchem Grad beruht die Zusammenfassung vieler tausend Noten in einer Symphonie auf einer tonalen Struktur? ,Das ist das Geheimnis der Musik‘, bemerken die Schweizer Forscher. ,Ist die fraktale Geometrie eine angemessene Sprache, dieses Geheimnis zu beschreiben?‘ — Das Vertrauen in die Antwort zeigt sich in ihrer Patent- Zulassung.“

Die fraktale Wiederholung unterscheidet sich ganz entscheidend von der technischen Reproduzierbarkeit — wenn die Methode der Hsüs funktioniert, woran bei der Gründlichkeit Schweizer Patentämter kaum zu zweifeln ist, stehen nicht monotone, immer gleiche Mozart-Kopien, sondern stets unterschiedliche, aber immer selbstähnliche Variationen ins Haus — in einer Vielzahl und Komplexität, vor denen selbst das genialste Musikerhirn passen müßte. Nur Puristen, die nie in einem Seepferdchen-Tal tauchten, wenden sich mit Grausen ab. Der arbeitsscheue Amadeus aber hätte seine Freude gehabt — zu seinem 200. Todestag in diesem Jahr besteht die Aussicht, das Köchelverzeichnis ad infinitum zu verlängern.

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