GASTKOMMENTAR
: Nachtarocken?

■ Vorgeplänkel der Verfassungsdebatte im Reichstag

Die Idee einer großen Verfassungsdebatte mit anschließender Volksabstimmung hatte von vornherein einen gravierenden Schönheitsfehler. Sie war an die Aufrechterhaltbarkeit der staatlichen Souveränität der DDR geknüpft. Die Vorstellung eines Tauschverhältnisses zwischen zwei gleichen Gesellschaften lag ihr zugrunde. Die Einheit sollte gegen eine neue Verfassung zu haben sein, und nur dann. Vom Osten her war das formell ein Angebot des Runden Tisches an die Bundesrepublik, tatsächlich verschanzte sich die siegreiche Opposition gegen das Regime und dessen bisher herrschende Partei hinter ihm, um von der politischen Klasse der Bundesrepublik nicht einfach über den Tisch gezogen werden zu können. Das Bündnis der Bundesregierung mit den Blockparteien und deren Wahlsieg bei den Wahlen im März 1990 machte den Preis kaputt, der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR entzog jedem Handel den Boden, und die Vereinbarungen zwischen Kohl und Gorbatschow brachten das Angebot auch um allen äußeren Kredit.

Im Westen gab es zu keinem Zeitpunkt einen inneren Anstoß für eine umfassende Verfassungsdebatte im Zuge des Vereinigungsprozesses. Interesse an ihr konnten nur die Kräfte haben, die im exekutiven Charakter und gedankenlosen Tempo der Vereinigung eine Gefahr für die Demokratie in der Bundesrepublik sahen. Sie aber hatten nichts in der Hand, um ihrerseits eine reziproke Tauschhaltung einzunehmen und die Vereinigung an verfassungspolitische Bedingungen zu knüpfen.

Die Vereinigung lief nicht nach dem Tauschprinzip: alte Einheit gegen neue Verfassung. Vielmehr ermöglichte das alte Grundgesetz erst die neue Einheit. Und sie kostet. Wenn aber die D-Mark weich wird, sind die Zeiten für gesamtdeutsche sanfte Revolutionen hart. Wer auf gesellschaftliche Reformen setzt, wird heute auf die politische „Totalrevision des Grundgesetzes“ (Wolfgang Ullmann) kaum aus sein können. In der breitgetretenen Bundesrepublik wird in Ost wie West erst mal wieder von vorn angefangen werden müssen, also in den Ländern und Kommunen. Nach dem unvorhergesehenen Erfolg der Rebellion von 1989 und der überkommenen Einheit von 1990 wird der alte Maulwurf noch gründlich wühlen müssen, bevor man von großen Veranstaltungen sich mehr Demokratie erhoffen kann.

Hiflos und widersprüchlich klang, was im Reichstag für die große Lösung der festgestellten Verfassungsmängel vorgetragen wurde. Mehr als ein Nachspiel vor einem kleinen Publikum ist nicht zu erwarten. Ein Unentschieden als Ergebnis wäre schon gut. Joscha Schmierer

Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift „Kommune“.