Ein Haus für Gespenster und Milch

Moskau zu Michail Bulgakows hundertstem Geburtstag  ■ Von Barbara Kerneck

Ach, wie bekannt war doch das Haus... Ein schickes Haus“, schrieb Michail Bulgakow in Der Meister und Margarita. In dem fünfstöckigen Gebäude an der Bolschaja Sadowaja in Moskau wohnte er 1921 bis 1924, links unterm Dach — in jener berühmten Wohnung, die im Roman für den eleganten Teufel Voland, dessen Assistenten Assasello und den fetten Kater Begemot ewige Heimstatt wurde. Wo das kreative Satansgefolge (ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft) sein Wesen trieb, haben im letzten Winter Unwesen den Dachboden angekokelt und mutwillig verwüstet, was von jener Wohnung übrigblieb. Natalja Romanowa, bis vor kurzem eine kleine Angestellte einer im Haus angesiedelten sowjetischen Behörde, entließ sich daraufhin selbst, ernannte sich zur Hüterin des literarischen Erbes und brachte eine Metalltür vor dem Bodeneingang an. „Wir kommen wieder“, stand am nächsten Tag auf der Tür.

„Sic transit gloria mundi! Es ist schrecklich zu leben, wenn Kaiserreiche untergehen“, schrieb Bulgakow schon Ende der dreißiger Jahre, und schon damals als Kommentar zum Schicksal dieses Hauses.

Bereits zum zweiten Male erlebt das Gebäude den Untergang eines Imperiums, und diesmal hat dieser Prozeß das linke Hinterhaus auf das phantastischste gezeichnet. Als Dokument „des erwachenden freien Denkens und lebendiges Symbol der 80er Jahre“ bezeichnete die 'Literaturnaja Gaseta‘ kürzlich die Wände in besagtem Treppenhaus. Schon vor sechs Jahren, als das „neue Denken“ von oben proklamiert wurde, füllten sich diese Wände mit den Seufzern von Liebenden ohne Bleibe und von unverstandenen jungen Dichtern, mit den Versen der beliebtesten sowjetischen Rock-Barden. Hier erblühten Porträts des „Meisters“, des verfolgten Literaten, dem im Roman der Teufel zu Hilfe kommt, seiner unerschrockenen Geliebten Margarita und Zeichnungen des impertinenten Katers Begemot — eine herrlicher als die andere. Schon die zweite Generation von Jugendlichen pilgert heute hierher und beschwört die Gestalten des Romans, um sich zu retten: „Voland, wo bleibst Du, wir erwarten Dich!“ Ringsum verfällt das Haus, nur wenige Wohnungen sind bewohnt, und die hier lebenden Ratten stehen dem Kater Begemot an Leibesumfang nicht nach.

Bulgakows Gestalten sind für das Volk Wirklichkeit geworden, seitdem der Roman, dessen zahlreiche Manuskriptvarianten der Autor versteckt halten mußte, Ende 1966 das Licht der sowjetischen Öffentlichkeit erblickte. Des „Meisters“ Leitmotiv: „Manuskripte brennen nicht!“ bestätigte sich 26 Jahre nach seinem Tod. Und auch die Hüter des nationalbolschewistischen Erbes beugen sich heute der Konjunktur. Daß das Volk in diesem Falle nicht so -tümlich ist, wie sie es gerne hätten, stört sie dabei wenig. Die „Trotzkisten“ und dieselbe Art von „demokratischen“ und „liberalen“ Schreiberlingen, wie sie heute die sowjetischen Medien beherrschten, seien Bulgakows eigentliche Feinde gewesen: So begründet die 'Sowjetskaja Rossija‘ die Publikationsverbote und die publizistischen Verleumdungskampagnen, unter denen Bulgakow in den Jahren vor seinem Tod zu leiden hatte. Die Zeitung setzt das Wörtchen „demokratisch“ mit Vorliebe in Anführungsstriche, und sie kennt auch die wahren Freunde des Dichters: die „echt patriotische Intelligenz“. Neben einem Artikel dieses Inhalts werden zum hundertsten Geburtstag des Meisters dem Publikum wohldosiert zwei neue kleine Texte präsentiert. „Publiziert“ und unterzeichnet hat sie an dieser Stelle der Chef des Bulgakow-Archives, W. Lossew. Dieser Mann befand es der 'Literaturnaja Gaseta‘ zufolge noch 1988 (!) für nötig, die Herausgabe einer Gesamtausgabe des Dichters im Ausland als „antisowjetische Aktion großen Maßstabes“ zu geißeln. Nicht umsonst ist das Irrenhaus einer der wichtigsten Schauplätze in Bulgakows Roman, nicht umsonst die Schizophrenie in der sowjetischen Gesellschaft eines seiner Hauptthemen.

Inzwischen gibt es in der Sowjetunion nicht nur von, sondern auch über Bulgakow hervorragend redigierte Ausgaben. Noch immer gibt es aber auch Vorworte, in denen entschuldigend darauf hingewiesen wird, daß die Perspektive des Dichters „fremd“ anmute und unter „überquellender Subjektivität“ leide (Werkauswahl von 1988 im Verlag „Künstlerische Literatur“). Für den schöpferischen Mut, das Originelle und Schwierige, haben die Spießer, die literarische Werke gern als „packend“ und „kraftvoll“ loben, auch heute noch keine Worte. Angemessen verfährt Bulgakow mit solchen Leuten in seinem Roman, im Zuge seiner gewaltigen Rachephantasien gegenüber den Päpsten und Managern des Kulturbetriebes: „Sehr, sehr angenehm, antwortete der katerartige Dickwanst piepsend, holte plötzlich aus und versetzte Warenucha eine Ohrfeige, daß dessen Mütze vom Kopf flog und spurlos in der Klosettöffnung verschwand.“

Die mittelmäßigen Schriftsteller, schäbigen Spekulanten, denunziatorischen und neidischen Hauswarte und korrupten Gastwirte aus Der Meister und Margarita tragen im heutigen Moskau ihre Kämpfe wieder offen aus. Die schweren Zeiten erschweren auch ihre Mimikry. Noch immer sind sie bereit, sich — wie bei Volands Varieté-Vorstellungen — um ausländische Kleider und um das vom Theaterhimmel schwebende Geld zu prügeln. Und als sich kürzlich anläßlich der absurden, über Nacht verkündeten Entwertung der alten Hundertrubelscheine die Menschen vor den Sparkassen zu Tode drückten, war gewiß Verzweiflung mit im Spiel, aber auch die rücksichtslose Brachialgewalt solcher Philisterellenbogen.

„Sieben klitzekleine Bürokraten, die keiner kennt“ waren es der 'Literaturnaja Gaseta‘ zufolge, die Ende 1989 verfügten, in dem Haus an der Bolschaja Sadowaja ein aserbaidschanisches Kulturzentrum einzurichten. „So sät man wohl planmäßig Haß zwischen verschiedenen Nationen“, bemerkt die 'Literaturka‘ und weist darauf hin, daß gegenüber dieser Verfügung der damals gerade gefällte Beschluß des Stadtparteikomitees machtlos erschien: aus dem Haus ein Bulgakow-Kulturzentrum mit Museum, Theater, Bibliotheken und Konferenzsälen zu machen. Viele Moskauer Bürger, am aktivsten die kleine, ältliche und arbeitslose Natalja Romanowa, haben seither für das Zentrum gefochten. Die Stadtregierungen wechselten. Der nun schon frei gewählte Stadtteilsowjet des Bezirks Krasnaja Presnja beschloß, den größten Teil des Hauses — nein, nicht für ein Bulgakow- Zentrum, sondern für ein Hotel der Aktiengesellschaft „Union“ zur Verfügung zu stellen, die Moskau mit Milch beliefert. Auch der neue Vorsitzende der Moskauer Stadtexekutive, Jurij Luschkow, soll sich, davon unabhängig, auf diese Flüssigkeit bezogen haben: „Wie könnt ihr mir jetzt mit einem Bulgakow-Zentrum kommen, wenn es schon morgen in der Stadt keine Milch mehr geben wird?!“ Die 'Literaturnaja Gaseta‘ billigt dem Mann ehrliche Gründe zu, argumentiert aber: „Wie sehr man die Milch auch der Kultur gegenüberstellen mag, sie wird davon doch nicht mehr. Es wird dann schließlich weder das eine noch das andere geben.“

Bulgakow selbst hat in den letzten Jahren mehr als ein Kulturzentrum buchstäblich „verdient“. Dreißig Millionen Buchexemplare dieses Autors setzten sowjetische Staatsverlage in den letzten vier Jahren ab, die Nachfrage ist ungebrochen. Der Meister selbst starb 1940 bettelarm an Neurosklerose. Seine Werke waren verboten, mehrere Theater forderten von ihm Vorschüsse für Inszenierungen seiner Stücke (Die Tage der Geschwister Turbin, Sojkas Zimmer) zurück. Denn nachdem diese in den 20er Jahren erfolgreich gelaufen waren, mußten sie mit Ende dieser Epoche auf „Befehl von oben“ von den Spielplänen genommen werden. Stalin selbst hatte sich die Tage der Geschwister Turbin fünfzehnmal mit Begeisterung angesehen. In einem berühmten Brief an ihn opferte Bulgakow 1930 keines seiner literarischen Prinzipien, bat aber um eine kleine Stelle, und sei es als „Bühnenarbeiter“, im sowjetischen System, „weil ich als Verfasser von fünf in der UdSSR und im Ausland bekannten Bühnenstücken im Moment nur noch das Elend sehe“. Bulgakow starb so ärmlich, wie er zu Beginn seiner Moskauer Zeit gelebt hatte, und wie er sich wegen seiner Lebensumstände geniert hatte, genierte er sich auch seines Todes.

Inzwischen häuft sich der Müll im Treppenhaus an der Bolschaja Sadowaja, die Wasserrohre werden, der Auskunft Natalja Romanowas zufolge, keinen weiteren Winter überleben. „Seht diese Bilder an“, schrieb dieser Tage die jugendorientierte Moskauer Stadt-Tageszeitung 'Komsomoljez‘ zu Aufnahmen des berühmten Ortes, „eine Abfallhalde, ein Heim für Ratten, Schnaken und Gespenster“. Und — mit Bezug auf die aktuelle Verfassung der Sowjetunion: „Wo er sich zu sterben geschämt hat, leben und feiern wir, machen Politik und Kunst — und eine Perestroika nach der anderen...“