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Nach Tisch

■ Rechtsstaat und Aufarbeitung der Vergangenheit

Nach Tisch Rechtsstaat und Aufarbeitung der Vergangenheit

Es war ein kleiner historischer Augenblick: das Ehepaar Tisch vor der Moabiter Untersuchungshaft, immer noch fassungslos, daß die Klassenjustiz sich heimtückisch als Rechtsstaat entlarvte und den FDGB-Chef freiließ. Und der lakonische Satz der Justizsenatorin Limbach — „Volkszorn ist kein Haftgrund“ — wird als eines der wenigen prägenden Worte dieser Zeit der Vereinigung eingehen. Aber man höre nur den östlichen Nachhall dieses Satzes und wird begreifen, wie bitter er in der Ex-DDR aufstoßen wird. Richtig bleibt der Satz gleichwohl. Die bittere Tatsache, daß die DDR-Bevölkerung durch ihre hastige Selbstaufgabe und Flucht in die Vereinigung sich der Chance begeben hat, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, kann durch nichts versüßt werden. Aber der Rechtsstaat ist nicht dazu da, verpaßte historische Chancen zu kompensieren. Die Erwartung einer historischen Gerechtigkeit, wonach alle ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, hat nichts mit dem Strafrecht in einer Demokratie zu tun. Aber dennoch sind die Prozesse wichtig — vor allem für die neuen Bundesländer — und sie sind nicht gescheitert, wenn sie nicht die ersehnte Bestrafung erbringen.

Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkt konnte ohnehin nicht befriedigen, daß die Justiz in einem Anfall von Populismus sich auf die Jagd nach den verschwundenen Devisen machte. Nicht Schalck- Golodkowskis Schiebereien, sondern ganz andere Themen sind dringlich: die Frage der Befehlskette, die zum Todesschuß an der Mauer führte; die Psychiatrisierung von politischen Gefangenen; die Fälle von Folter; die Todesfälle in Bautzen und nicht zuletzt - die politische Justiz selbst. Hier geht es um die Fragen von Befehlsnotstand, um das Verhältnis von Menschenrecht und positivem Recht. All das sind Fragen, vor denen die bundesdeutsche Justiz schon einmal historisch gescheitert ist, bei der Behandlung der Nazi-Täter. Es darf nicht noch einmal geschehen, daß so zögerlich, energielos und widerwillig ermittelt wird, bis die Täter aus Altersgründen vor der irdischen Gerechtigkeit geschützt sind. Es wäre viel wichtiger, bei den genannten Komplexen Schwerpunktstaatsanwaltschaften aufzubauen, als sich auf die juristische Jagd nach KoKo-Geldern zu machen. Und hier gibt es auch Gründe der historischen Gerechtigkeit: Wenn die heutige Justiz die strafrechtliche Relevanz der individuellen Verantwortlichkeit in einer Diktatur herausarbeiten würde, wenn ihr also das gelingen würde, wo sie seinerzeit, gegenüber den Nazi-Verbrechern das Scheitern vorzog, dann bedeutet das keineswegs historisches Unrecht. Gewiß: die deutsche Justitia würde womöglich DDR- Tätern genau die Härte zeigen, vor der sie einst die Nazi-Täter schützte. Aber die Justiz würde, nachträglich zwar, doch ein deutliches Urteil über die Justiz der Nachkriegszeit fällen. Spürt sie schon das Dilemma? Klaus Hartung

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