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Harry Tisch bald wieder nach Graal-Müritz

■ Eine Verurteilung des einstigen FDGB-Bosses ist nach seiner Freilassung sehr unwahrscheinlich

Berlin (taz) — „Krenz zu Tisch" hieß eine doppeldeutig-schöne Parole, mit der die Demonstranten in der DDR im Spätherbst 89 forderten, auch der damalige Partei- und Staatschef gehöre dorthin, wo sein Politbürokollege Harry sich schon aufhielt: hinter Gitter. Der Wunsch ging — wie noch einige andere Träume der Herbstrevolutionäre — bekanntlich nicht in Erfüllung. Schlimmer, seit Donnerstag erfreut sich auch der 64jährige ehemalige Gewerkschaftsboß wieder der Freiheit.

Die 19. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts begründete ihre Entscheidung, es sei unwahrscheinlich, daß Harry Tisch noch überführt werden könne. Ohnehin mußte sich Tisch nicht für die Verbrechen des Regimes verantworten, dem er als führender Funktionär gedient hatte; vorgeworfen wurde ihm die sachfremde Verwendung von 100 Millionen Mark aus dem Solidaritätsfond des FdGB. Ein Verfahren hätte noch angehen können, wenn Tisch das Geld in die eigene Tasche verschoben hätte. Doch Tisch hatte das Geld 1984 selbstlos für das FDJ-Festival abgezweigt, eine der wenigen Veranstaltungen, die sich — wider allen Behauptungen im nachhinein — bei der jungen Generation des ehemaligen ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern- Staates größter Beliebtheit erfreuten. Ausgerechnet Egon Krenz dürfte bei der Entscheidung des Gerichts, Harry Tisch aus der Untersuchungshaft zu entlassen, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Krenz hatte sich mit seiner Aussage eindeutig vor Harry Tisch gestellt und dessen Machtlosigkeit gegenüber Anordnungen aus dem Politbüro betont. Eine Verweigerung des Parteiwillens hätte für Tisch böse Folgen gehabt. Im Politbüro aber war, so die Aussage mehrerer Zeugen, die Entscheidung gefallen, das Vergnügungsfest für die Parteijugend vom FDGB finanzieren zu lassen. Überweisungen des FDGB in Millionenhöhe an andere Institutionen gehörten zudem schlicht zum Alltag der ehemaligen DDR.

Nur die Staatsanwaltschaft widersprach bis zuletzt hartnäckig Tischs Freilassung. Und das Gericht will Tisch jetzt an anderer Stelle packen. Daß sich der FDGB-Vorsitzende private Reisen in das Ostsseebad Graal-Müritz aus der Gewerkschaftskasse bezahlen ließ, scheint nach dem bisherigen Prozeßstand unzweifelhaft. Doch auch in diesem Anklagepunkt sieht die Verteidigung Schwächen: „Es wird für das Gericht schwer werden zu unterscheiden, was Tisch in seiner Funktion als Gewerkschaftschef und als Privatmann gezecht hat“, meinte Verteidiger Winfried Matthäus. Offen ist die Legitimation für Rechnungen in der Größenordnung von einigen zehntausend Mark.

Doch vielleicht entwickelt die Berliner Justiz in den nächsten Wochen doch noch den Sinn dafür, daß man die führenden Repräsentanten des SED-Regimes nicht wegen Unregelmäßigkeiten bei der Spesenabrechnung verurteilen kann, nur weil ihre wirklichen Verbrechen nicht justiziabel sind. Bis dahin wird Tisch sich zweimal pro Woche bei der zuständigen Polizeidienststelle melden. Und wenn er mal nicht kommt, weil er für ein paar Tage mit Margot vielleicht nach Graal-Müritz gefahren ist, bitten wir schon vorab um Nachsicht. eis

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