: Der Aufstand des Speichen-Spartakus
■ Der krasse Außenseiter Melchor Mauri gewann mit fast drei Minuten Vorsprung die Spanien-Rundfahrt der Radprofis vor Miguel Induráin/ Veteran Lejarreta guckt in die Röhre
Berlin (taz) — Marino Lejarreta ist ein bedauernswerter Mensch. Wacker hat er so oft wie kaum ein anderer Vuelta, Giro und Tour bestritten und dabei vordere Plätze im Dutzend belegt. Ein Sieg bei einer der drei großen Rundfahrten durch Spanien, Italien und Frankreich gelang ihm in seiner langen Karriere jedoch nur einmal: 1982 bei der Vuelta. In diesem Jahr schienen seine Sterne wieder ausgesprochen günstig zu stehen. Er befand sich in hervorragender Form und in Abwesenheit von Topleuten wie Delgado, LeMond, Bugno oder Fignon schien die Erfüllung des Traums eines jeden Spaniers, der mal eine Pedale getreten hat, ein Sieg bei der Vuelta Ciclista a Espana, erneut in greifbarer Nähe.
Doch diesmal wurde nichts daraus. Ausgerechnet ein vorwitziger Emporkömmling aus seinem eigenen Team vermasselte dem 34jährigen Spanier die Tour: Melchor Mauri, der eigentlich dazu ausersehen war, den Weg für die beiden Stars des ONCE-Teams, Lejarreta und Anselmo Fuerte, zu ebnen, gewann statt dessen die Vuelta 91.
Als Mauri auf der ersten Etappe die Führung übernahm, galt er als provisorischer Spitzenreiter. Zwar kannte man ihn als ausgezeichneten Zeitfahrer, doch seine Leistungen in den Bergen waren bis dahin eher mäßig gewesen. Doch zur Überraschung aller gab er den ersten Platz im Gesamtklassement während der gesamten 3.393 Kilometer langen Rundfahrt nur noch ein einziges Mal ab, nach der 3. Etappe, als er das gelbe Trikot für einen Tag seinem Landsmann Diaz Zabala überließ.
In den Pyrenäen hielt er sich gut, doch erst als er beim extrem schwierigen Zeitfahren in den asturischen Bergen nur wenige Sekunden einbüßte, begann auch seine eigene Mannschaft langsam, ihn ernst zu nehmen. Die Entscheidung fiel dann auf der 16. Etappe beim ebenso malerischen wie mörderischen Anstieg zu den Lagos de Covadonga.
Hier kam die große Chance für Marino Lejarreta, der sich gemeinsam mit den Spaniern Federico Etxabe und Miguel Induráin auf die Fersen des enteilten Luis Herrera aus Kolumbien geheftet hatte. Es war klar ersichtlich, daß Lejarreta in dem Trio an diesem Tag der Stärkste war. Die Gelegenheit, den beiden Konkurrenten davonzufahren und jene Minuten herauszuholen, die er für den ersehnten Triumph benötigte. Gleichzeitig wußte Lejarreta, daß er mit einer Verschärfung des Tempos unweigerlich seinen Teamkollegen Mauri ins Verderben stürzen würde. Er zauderte, griff dann eher halbherzig an, und als ihn Induráin und Etxabe wieder einholten, verzichtete er auf weitere Attacken. So konnte der einsam und verzweifelt hinterherhetzende Mauri seinen Rückstand gering halten. „Ich habe einen Riesenschritt getan“, frohlockte er im Ziel und zum erstenmal sprach auch ONCE-Team-Manager Manuel Sáiz davon, daß Mauri vielleicht das Zeug haben könnte, das gelbe Trikot bis nach Madrid zu behaupten.
Den großen Worten seines Bosses ließ Mauri ebensolche Taten folgen. Beim Zeitfahren von Valladolid präsentierte er sich in grandioser Form und strampelte mehr als eine Minute Vorsprung vor Induráin heraus. Die vorletzte 20. Etappe durch die Sierra de Guadarrama verbrachte Melchor Mauri von Anfang bis Ende am Hinterrad des nunmehr zweitplazierten Induráin und die 21. Etappe, die der Niederländer van Poppel gewann, geriet zum reinen Triumphzug für den zähen Burschen aus Katalonien. Miguel Indurain, dem ebenfalls noch ein großer Sieg fehlt, wurde Zweiter, und auf den dritten Rang kam Marino Lejarreta, der wohl umgehend einen Zahnarzt aufsuchen muß, da sein Gebiß vom vielen Zähneknirschen ziemlich angegriffen sein dürfte.
Mauris Sieg zeigt, ebenso wie der letztjährige Erfolg des Italieners Giovannetti bei der Vuelta oder der eindrucksvolle, wenngleich zum Schluß gescheiterte, Auftritt des Ronan Pensec bei der Tour de France, daß die Spitze bei den Radprofis enger zusammengerückt ist. Auch vermeintlich zweitklassige Leute haben, wenn sie wie Speichen-Spartakus Melchor Mauri durch eine günstige Fügung von ihrem Sklavendasein als Wasserträger befreit werden und aller Mannschaftsdisziplin ledig auf und davon radeln dürfen, durchaus das Zeug, selbst die ganz großen Rennen zu gewinnen. In Zukunft werden sich die Favoriten schon auf den ersten Etappen ganz genau überlegen müssen, wen sie an die Spitze lassen und wen nicht. Ein enttäuschter Lejarreta brachte es auf den Punkt: „Der Radsport wird immer komplizierter.“ Matti
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