Die Überbleibsel der »Modernen Frisierkunst«

■ Die Fotografin Uri Hart sucht nach den Firmenschildern des untergegangenen Handwerks in Prenzlauer Berg und Mitte/ Viele jüdische Betriebe behielten den Namen, wurden aber »arisiert«/ Ausstellung der Fotos im Humboldt-Krankenhaus

Prenzlauer Berg/ Mitte. Dutzende von Baugerüsten stehen in Prenzlauer Berg und in Mitte. Die Bauarbeiter schlagen die Reste des alten Stucks herunter, sie klopfen den Putz ab und säubern mit Sandstrahlgebläsen die verrotteten Fassaden bis auf den Grund. Die alten Häuser werden modernisiert, renoviert, schön gemacht für die neue Zeit. Die Zeichen der alten Zeit landen auf Schuttbergen, sie verschwinden, bevor sie dechiffriert sind.

Uri Hart, 36 Jahre, gelernte Krankenschwester und seit sieben Jahren »Briefträgerin aus Leidenschaft«, ist Spurensucherin und eine ausgezeichnete Fotografin. Das »Sehen- Wollen«, sagt sie, hat sie als Briefträgerin gelernt, jetzt muß sie sich beeilen, denn die Spuren, die sie gefunden hat und weiter finden möchte, vernichten die Baukolonnen oder Graffitisprayer für alle Zeiten.

Uri Hart sucht seit anderthalb Jahren nach Zeugnissen des untergegangenen Berliner Handwerks in Prenzlauer Berg und Mitte. Sie fotografiert verblichene Firmeninsignien, vor drei Generationen, in altmodischer Schreibschrift auf rohen Putz gemalt. Die Buchstaben sind heute kaum mehr zu erkennen, der Regen und die Sonne haben sie vergilben lassen, der bröckelnde Putz zerstört die Worte. Mit der Pentax nimmt sie die Zeichen auf, in Archiven und durch Befragung von Nachbarn versucht sie die Geschichte der ehemaligen Geschäftsinhaber vor dem völligen Vergessen zu bewahren. Viele Geschäfte gehörten einst Juden, hat sie herausgefunden. Nach 1933 wurden die alten Besitzer zur Geschäftsaufgabe gezwungen, Eintragungen in Handelsregister und Branchenbücher beweisen, deutsche Kleinhändler, die Ariseure von nebenan, haben profitiert.

Beispiel Steinstraße 20: Buchstabenfragmente lassen erkennen, hier war einst im Keller des Hauses ein Damensalon. »Moderne Friseurkunst« läßt sich entziffern. Uri Hart hat im Jüdischen Handwerkerverzeichnis nachgeschlagen. Von 1925 bis 1935 wurde der Kellersalon von F. Oberländer allein betrieben. Im Branchenregister wird ab 1935 ein Herr Manthey als Mitbesitzer eingetragen. Ab 1937 betreibt er den Laden allein. 1943 wird der Salon im Handelsregister gelöscht. Wurde der Betrieb »arisiert«? Wurde Manthey als Soldat an die Ostfront geschickt? Hat F. Oberländer die Nazizeit überlebt? Uri Hart weiß es nicht, im Totengedenkbuch der Jüdischen Gemeinde wird der Name nicht aufgeführt. Von dem Damensalon im ärmlichen Kellerladen ist nichts anderes übrig geblieben als einige Buchstaben. Auch diese werden bald nicht mehr zu deuten sein. Die Hauswand ist übersät mit grellbunten Graffiti, einige Häuser weiter wurde nach der Wende ein Haus besetzt.

Das Foto von Uri Hart, aufgenommen an einem dämmrigen Winternachmittag ist melancholisch, hat nichts an sich von einer romantisierenden Nostalgie. Die Rolläden des Ladens sind heruntergelassen, einer klemmt, vielleicht schon seit 1943. Alle Fotos der sehenden Briefträgerin sind melancholisch, Nicht mehr hier und doch noch da, hat sie die Sammlung ihrer Bilder genannt.

Nicht mehr da ist auch die Plissebrennerei in der Rykestraße 52. Das Jüdische Handwerkerverzeichnis von 1934 nennt Olga Schubert als Inhaberin. An den Handwerksbetrieb erinnert nur noch die kaum mehr lesbare Fassadenaufschrift »Hohlsäume, Knopflöcher, Zick-Zack, Stoffknöpfe, Ketteln«. Sind hierhin die Frauen der Nachbarschaft geeilt, um die Stoffe für das Sonntagskleid plissieren zu lassen? In den dreißiger Jahren war das ein aufwendiges Verfahren. Uri Hart beschreibt den Arbeitsvorgang. »Zwischen zwei vorgekniffte Papierbahnen wird eine Stoffbahn gelegt. Durch das Entfernen von Gewichten fallen beide ineinander. Die Bahnen werden nun auf Rollen gewickelt und in einen Dampfofen gestellt«.

Nicht mehr hier und doch noch da ist ebenfalls das »Vegetarische Speisehaus« in der Neuen Schönhauser Straße 10/11. Auch dieser Betrieb wurde vermutlich »arisiert«. Zwischen 1905 und 1920 hieß der Betreiber Fr. Meinung. Ein Rudolf Kronberg wurde sein Nachfolger. Ab 1939 ist eine Frau Lieder Bewirtschafterin. Uri Hart hat einen Zeugen gefunden, einen alten Mann, der nach jahrzehntelangem Exil in Argentinien nun wieder in Berlin lebt. »Ich traf mich im Speisehaus mit einem Mann, der mir half, meine Flucht aus Nazideutschland vorzubereiten«, hat er der Spuren- und Geschichtensucherin erzählt.

Zwei Stockwerke unter dem Speisehaus gab es einen — vermutlich ebenfalls jüdischen — Familienbetrieb Lehmann. Uri Hart hat die Zeichen auf dem Putz entschlüsselt. Die Familie verarbeitete dort seit 1915 Straußenfedern für die Damen der Gesellschaft. 1932 erweiterten sie ihr Programm für Varieté, Bühne und Film. Zwei Jahre später dann die Geschäftsaufgabe. Einige Monate werden die Insignien vielleicht noch zu lesen sein. Die Klingbeil-Gruppe, die das Haus Anfang des Jahres teuer modernisieren wollte, mußte die Baugerüste demontieren. Noch bewahren ungeklärte Eigentumsverhältnisse die Erinnerung an Menschen, deren Spuren sich fast verloren haben.

Die Fotografien von Uri Hart sind bis 30. Juni an einem ungewöhnlichen Ort zu sehen. Im 1. Stock des hochmodernen Humboldt-Krankenhauses in Reinickendorf. Die Kranken haben die meiste Muße, sich in Bilder und Geschichten einzudenken, sagt Uri Hart. Es besteht die vage Hoffnung, daß der Heimatverein Berlin Mitte die Fotografien in einem Bändchen zusammenfaßt. Anita Kugler