Das tote Tier in dir

■ Pohl inszeniert Pohl in Hamburg

Billi denkt sich Bällchen aus, die er verliert und die die anderen suchen sollen. Er hat auch zwei Kartons, in die er Menschen ohne Gesicht einsortiert. Nur er kann sie öffnen, und nur in der Phantasie. Auf der breiten Brust hat er ein Pflaster; man habe ein Loch in ihn geschnitten, um hineinzuschauen. Jetzt soll die Wunde heilen, in vier Wochen, und deswegen zieht Billi das braune Mäntelchen über der Trainingshose nur ungern aus. Billi Kotte, der Heimkehrer in Klaus Pohls neuem Stück, war früher, wie der kleine Spitzel Urban im Stil einer Heldenlegende ankündigt, ein Zehnkämpfer mit „einem Körper wie ein Gott“, Olympia- Hoffnung und Stolz des kleinen Ortes. Er bekam Konflikte mit der Obrigkeit, landete im Zuchthaus und dann in der Psychiatrie, unter der Obhut seiner Schwester, die dort als Ärtzin arbeitet. Was man ihm anhängen wollte, war so nur in der DDR, in Deutschland also, Gegenstand besonderer Verfolgung: Auslandskontakte, Republikflucht, Sehnsucht nach den Niagarafällen. 13 Jahre lang wußte er nicht, was man eigentlich gegen ihn hatte. Der Aufenthalt in der Psychiatrie hat ihn immun gemacht gegen billige Erklärungen, gegen die Angst und gegen die Versuche, ihn bei seiner Rückkehr in das Nach-Wende-Land als „befreiten Helden unserer Revolution“ zu feiern.

Klaus Pohls Heimkehrer ist nicht nur eine historische Figur, Opfer und Zeuge. Ganz groß hat er ihn entworfen, in all seiner unbeholfenen Unschuld. Er kommt zurück aus dem „Haus mit den krummen Wänden“, wie ein mythischer Held aus einem langen Schlaf im Zauberberg, doch bringt er den Albtraum mit. Josef Bierbichler, den Pohl sich für diese Rolle gewünscht hatte, der große Bayer, bietet dem Heimkehrer im eng gewordenen schäbigen Mäntelchen den ganzen Raum zwischen massiger Beharrlichkeit und fast tänzerisch-leichter Bewegung, als sei sein Körper aufgespannt zwischen unruhigen Füßen, mitunter heftig ausgreifenden Händen und dem tief zwischen die Schultern gezogenen Kopf. Irritation geht von ihm aus, eine große Kraft, die von zerbrechlichem Grund aufzuschnellen scheint. Für die, auf die er trifft, beginnt der Boden zu schwanken, nicht, weil er etwas tut, sondern weil er da ist. Pohl entwickelt daraus mit seinem glänzenden Ensemble ein Dominospiel, an dessen Ende alle Steinchen sich gegenseitig zu Fall gebracht haben, mit einer Zwangsläufigkeit, die schon früh abzusehen ist, weil die Geschichte der kleinen Spitzel und Verräter, die alle ins Netz gerieten, so vertraut ist, daß wir ihrer Geschichten oft schon überdrüssig sind, allzu schnell, allzu leicht, wie immer.

Am langen Tisch im Biergarten unter dem Baum wird zu Beginn bald die Frage „Wer ist wer?“ aufgeworfen, und im schmierigen Spitzel Urban, ungebrochen in seiner Kunstlederjacke, wittert Billi seinen Widerpart. Er erträgt ihn nicht, weil er so offen ist wie er selbst: „Der jetzt so verrufene Geheimdienst“, sagt Urban, von Gustav-Peter Wöhler kunstvoll in der Balance zwischen beflissenem Diensteifer gegenüber dem Bankdirektor aus dem Westen und eloquentem Zynismus gehalten, habe „Ausdauer und Phantasie bewiesen“. Welch grausiges Ausmaß beides hatte, deckt Karate-Billi schließlich mit dem Messer in der Hand auf, wenn er dem Bürgermeister, von dem man munkelt, er sei ein „kleiner Ceaucescu“, in der Kneipe das schmutzige Geheimnis um seine Verhaftung vor 13 Jahren entreißt.

Alle sind schuldig, der Pfarrer, der Arzt, die junge Frau, seine „schöne Spanierin“, der Billi zu Beginn die Füße küßte, und das gewaltsame Ende des kleinen Spitzels, der als großes Tier, als Stasi-Oberst enttarnt wird, steht nicht für die Auflösung der Verstrickungen und schon gar nicht für seine Befreiung. Dieses Blut ist die Folge bloßer Berührung: alle beteuern, keine Schuld zu haben, alle übten Gewalt aus, mehr oder weniger versteckt, mehr oder weniger kalt, und wer das aufdeckt, bringt die Wunden zum Bluten.

Pohls Menschen sind keineswegs sprachlos, im Gegenteil. Fast eruptiv bricht Sprache aus ihnen heraus, Worthülsen, Erklärungen, Sprengsätze. Sie verdichten sich zu einem Gespinst von Lug und Selbstbetrug, ohne jede Chance zu klären, aufzuklären. Das gerät in diesem letzten Teil mitunter zu lehrstückhaft und deklamatorisch, doch die Figur des Billi, dessen Auftritt in der Gaststätte mit dem Italowesternsong, dem Lied vom Tod, untermalt ist, hält diese traurige Ballade von der Wende und ihrem Strandgut zusammen. You better move on, scheint ihm ein anderer Song von den Rolling Stones anzuraten, ganz leise, doch da ist es schon zu spät. Wer mit einem toten Tier in sich lebt, so Billi in seinem Tagebuch, das er in einer der eindrucksvollsten Passagen des Stückes verliest, einen einzigen Satz für jedes der 13 Jahre, der kann nicht vergessen, was geschah, und wenn es ihn Leben und Freiheit kostet.

Im zweiten Akt, dem Mittelteil des Stückes, rückt die Möglichkeit weiter- oder fortzugehen, ganz nah. Eine der Hochhausfassaden, die zunächst den wohlbekannten Hintergrund gesamtdeutschen Sozialbaus abgaben, senkt sich vor den Bühnenraum, und wir sehen Billi und seine Schwester, die ihn als Ärztin schützte, am erleuchteten Fenster: eine Liebesszene von großer Zartheit, doch auch diese Liebe war und ist nicht möglich. Als Un-Möglichkeit leuchtet sie auf, doch am Ende war auch die Schwester verstrickt und ihre Liebe so schief und leer, wie Billi Gesichter und Wände wahrnimmt.

Die DDR vor der Währungsunion, in die das Stück führt, ist in Klaus Pohls Inszenierung schon unendlich weit weggerückt. Damit sinkt auch das Interesse an der Aufklärung des „Falles“ Billi Kotte, zum Nachteil dieser Inszenierung. Doch wie die Menschen sich berühren und warum sie es vermeiden, welche Furcht sie umtreibt und warum ihnen die Sehnsucht abhanden kommt, wird sorgsam und genau gezeigt, und das wiegt vieles auf. „In zwei Jahren“, sagt Sascha, die junge Frau, „haben wir alle neue Gesichter, glatte.“ Nein, könnte Billi ihr entgegnen, der reine Tor, der sich selbst den „Affen“ nennt, der starke Mann mit dem zersprungenen Räderwerk in der Seele, nein, die habt ihr längst. Und habt ihr sie nicht immer gehabt, diesseits und jenseits der Mauer? Und wie sagte die Oma in Klaus Pohls frühem Stück Hunsrück? „Gestern findet übermorgen statt.“ Lore Kleinert

Klaus Pohl: Das alte Land . Regie: Klaus Pohl. Bühne: Peter Pabst. Mit Josef Bierbichler, Eva Mattes, Gustav Peter Wöhler, Catrin Striebeck. Schauspielhaus Hamburg. Nächste Vorstellungen: 23./24. Mai.