Rebellen versetzen Sierra Leone in Schrecken

Liberianische Guerillatruppen sickern in den Südosten des Landes ein/ Einwohner fliehen/ Soldaten räumen kampflos das Feld oder schließen sich den Rebellen an/ Demokratische Wende des Präsidenten Momoh weckt zaghafte Hoffnung  ■ Aus Freetown Uwe Hoering

„Flüchtlinge aus Bo“, flüstert mir mein Tischnachbar im französischen Restaurant zu. Die Gruppe von „Expats“ am Nebentisch wirkt ganz munter, das Essen ist gut, Freetown ein angenehmes Exil auf Zeit.

Fast alle Ausländer haben Bo, mit 80.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes, verlassen. Die bewaffneten Gruppen, die kurz vor Ostern aus Liberia in den Südosten Sierra Leones eingesickert waren, rückten bedenklich näher. Schon das bloße Gerücht, sie seien im Anzug, treibt viele in die Flucht: Über 30.000 Menschen sollen bereits ins benachbarte Guinea geflüchtet sein, andere ins Landesinnere oder nach Freetown. Auf der Fahrt nach Bo begegnen wir einem Lastwagen, hoch beladen mit Hausrat, Autos vollbeladen mit Kartons, Körben und Fahrgästen. Andere haben sich zu Fuß aufgemacht, die ganze Habe auf dem Kopf.

Es war ein Schock, als klar wurde, daß die bewaffneten Gruppen nicht marodierende, hungrige Liberianer oder Schmuggler waren, wie anfangs angenommen, sondern daß ihr Auftauchen anscheinend eine gut vorbereitete und zielstrebig durchgeführte Invasion ist. Die sierraleonischen Soldaten räumten meist kampflos das Feld — vernünftigerweise —, haben sie doch nur veraltete Waffen, weder Munition noch Funkgeräte noch ausreichende Verpflegung. „Das ist schnell unter Kontrolle“, begann man zu hoffen. Beruhigend wirkte die rasche Zusage ausländischer Hilfe. Guinea und Nigeria, inzwischen auch Ghana, sagten zu, Soldaten zu schicken. Und die USA versprachen Waffenhilfe. Mobilisiert hatte die Regierung diese Hilfe mit der Behauptung, die Invasoren seien Taylor-Leute: Rebellenführer Charles Taylor wolle sich dafür rächen, daß die westafrikanische Friedenstruppe ECOMOG ihn im vergangenen Jahr so kurz vor seinem Ziel, Präsident von Liberia zu werden, gestoppt hatte. Sierra Leone, wichtige Basis für die ECOMOG- Truppen, solle deshalb destablisiert werden. Befürchtet wird auch, daß Taylors Erfolg anderen Möchtegern-Präsidenten als Vorbild dienen könnte.

In Freetown zirkulieren aber auch andere Versionen: Dissidenten aus Sierra Leone selbst könnten hinter der Guerilla stehen. Oder hochrangige Regierungsmitglieder, die die von Präsident Joseph Momoh angekündigte Demokratisierung sabotieren wollen.

Egal, welche Version nun stimmt: In Freetown steht jeder, mit dem man spricht, hinter dem Präsidenten, eine Welle patriotischer Gefühle schwappt durch die Stadt. „Revolutionäre Bewegungen, die sich nur auf die Gewehre stützen, bringen dem Volk keine Freiheit“, sagen selbst die rebellischen Studenten, „wir wählen den friedlichen Weg, um ein demokratisches Sierra Leone zu schaffen.“ Momohs demokratische Wende hat verhaltene Hoffnungen geweckt und der Opposition der städtischen Bevölkerung gegen ihn, getragen insbesondere durch die Mittelschichten, die Studenten, Intellektuellen und die Presse, die Spitze vorerst genommen — für sie birgt die Demokratie einige Hoffnungen.

Auf dem Lande könnte es anders aussehen. Freetown ist weit, die Demokratie kaum ein vielversprechendes Rezept für die Lösung der eigenen Probleme. Dazu kommt Unmut, insbesondere im Südosten. Die Volksgruppe der Mende, die hier lebt, hat seit langem von den Regierungen in Freetown die Nase voll. Korruption und wirtschaftlicher Niedergang sind unerträglich geworden. Wie andere Bevölkerungsgruppen auch fühlen sich die Mende von der kleinen, aus dem Norden stammenden Regierungsclique um Präsident Momoh, der „Limba-Mafia“, übergangen und benachteiligt und seit der Invasion schutzlos und im Stich gelassen. Bedenklich sind Berichte über Übergriffe im Südosten. Statt gegen die Rebellen zu kämpfen, gehen demnach Soldaten und insbesondere die berüchtigte Staatssicherheitsdivision SSD gegen die Zivilbevölkerung vor. „Sie vertreiben die Bevölkerung, um plündern zu können“, klagt ein libanesischer Geschäftsmann aus Bo. Vermeintliche Kollaborateure werden gefoltert und ermordet, Berichte über brutale Hinrichtungen von Dorfvorstehern und Dorfältesten sind Sprengstoff. Augenzeugen berichten denn auch bereits, die Rebellen würden nicht nur zwangsrekrutieren, sondern hätten auch Zulauf, vielfach von Halbwüchsigen.

Die Rechnung der Rebellen könnte aufgehen. Das Regime unter der Einheitspartei APC ist zwar weniger repressiv als einst Präsident Samuel Doe in Liberia, doch auch Sierra Leones politisches System ist marode, durch und durch korrupt, und unter Präsident Momoh hat die Vetternwirtschaft in der Führungsspitze zugenommen. Ob Demokratieversprechen noch etwas retten, ist fraglich. Alles könnte wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.