Stoph und Keßler in Untersuchungshaft

■ Ex-DDR-Ministerpräsident Stoph sowie Ex-Verteidigungsminister Keßler sollen für die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze zur Verantwortung gezogen werden/ Angebliche Fluchtpläne Keßlers

Berlin (dpa/afp/taz) — Der vorletzte Regierungschef der DDR, Willi Stoph, sowie der ehemalige Ostberliner Verteidigungsminister Heinz Keßler sind in der Nacht zum Dienstag festgenommen worden. Die Berliner Justiz wirft ihnen vor, in ihrer Funktion als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR gemeinsam mit Erich Honecker für den Schießbefehl verantwortlich zu sein. Zwischen 1961 und 1989 waren über 150 Menschen an der innerdeutschen Grenze erschossen worden. In dem 1974 erneuerten Befehl wurden die Grenztruppen angewiesen, „bei Grenzdurchbruchsversuchen rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen“. Die Ex-Funktionäre sollen jetzt wegen Anstiftung zum Totschlag vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden.

Nach Angaben der Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) wurden in diesem Zusammenhang auch zwei weitere ehemalige Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Fritz Streletz und Hans Albrecht, festgenommen. Die Arbeitsgruppe „Regierungskriminalität“ habe bei ihren Recherchen hinsichtlich des Status und der Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates festgestellt, daß die vier Beschuldigten als „mitverantwortliche Entscheidungsträger“ zu betrachten seien.

Die vorläufige Festnahme erfolgte, nachdem das Bundesinnenministerium bedeutet hatte, Keßler wolle sich in die Sowjetunion absetzen. Der Ex-Verteidigungsminister soll versucht haben, sich vom sowjetischen Militärflughafen Sperenberg südlich von Berlin aus abzusetzen. Von Sperenberg war auch Honecker in die Sowjetunion ausgeflogen worden. Zu den angeblichen Fluchtplänen paßt allerdings nicht, daß sich Keßler nach einer vorangegangenen Aufforderung bei der zuständigen Polizeidienststelle gemeldet hatte, wo er dann verhaftet wurde.

Der 71jährige Keßler war seit 1986 bis zum Sturz des SED-Regimes Verteidigungsminister und Politbüromitglied. Seit 1950 war er führend am Aufbau bewaffneter Streitkräfte beteiligt. Seit 1979 war er Chef der politischen Hauptverwaltung der NVA und stellvertretender Oberkommandierender des Warschauer Paktes. Nach der Wende saß Keßler zeitweilig in Untersuchungshaft. Die Untersuchungen wegen Korruptionsverdachts waren jedoch im Mai 1990 eingestellt worden.

Der 76jährige Stoph war von 1964 bis 1973 und seit 1976 bis zum November 1989 Ministerpräsident der DDR. Stoph, seit Anfang der 50er Jahre gleichfalls am Aufbau der Volkspolizei und an bewaffneten Streitkräften beteiligt, war von 1956 bis 1960 erster Verteidigungsminister der DDR. Nach der Wende hatte Stoph ebenfalls zeitweise in Untersuchungshaft gesessen, wurde aber wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wieder freigelassen. eis