Splitter vor der Blende

■ »Haiti« — Eine Fotoausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst

In der Dritten Welt ist das Wetter eigentlich immer prima zum Fotografieren. Die Farben schmeicheln jedem Kodak-Film, und wenn die Sonne gerade mal nicht scheint, lassen sich mit Blitzlicht vor tropischen Gewitterwolken dramatische Effekte erzeugen. Man kennt die Ergebnisse dieser Verlockungen aus jedem Reisemagazin. Nicht, daß dort die gängigen Motive der Armut verschwiegen würden — es ist etwas Formelles, Stilistisches, was die Slums und die Müllberge auf den Fotos desodoriert und schlimmstenfalls in Kunstgewerbe verwandelt. Haiti, seiner katastrophalen sozialen und infrastrukturellen Zustände wegen von Touristen weitgehend gemieden, bietet professionellen Fotografen jedoch paradiesische Zustände: spektakulär die Motive, bunt die Kleider und schwarz die Haut seiner gern lachenden Einwohner.

In der Haiti-Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, die zur Zeit Arbeiten von 29 Fotografen und Fotografinnen aus verschiedenen Ländern zeigt, ist das Bewußtsein dafür, wie leicht Armut hinter Glas ästhetisiert wird, wohltuend zu bemerken. Haitianische Zeitgeschichte wurde als Thema gewählt — die Fotos, überwiegend in Farbe, stammen mit wenigen Ausnahmen aus der Zeit nach dem Sturz von »Baby Doc« Duvalier im Jahr 1986. Das symbolische Begräbnis des Diktators, von den Tontons-Macoutes- Terrorkommandos verwüstete Wahllokale, Marktszenen, Müllberge mit Kindern, Karneval, Voodoo-Szenen, auf offener Straße Ermordete.

Nur in den letzten Raum, fast versteckt, hat Ausstellungsleiter Reinhard Schultz solche Fotos gehängt, die dem Titel der ursprünglichen Ausstellung, wie sie im New Yorker »Alternativen Museum« zu sehen war, gerecht werden: Mon Rêve — mein Traum. Es war klug, den Titel für die Berliner Ausstellung zu wechseln, denn ohne Haitianer als Flüchtlinge oder Einwanderer in direkter Nachbarschaft könnte er leicht als Euphemismus mißverstanden werden. Der lokalpolitische Bezug wird zwar durch politische Zusatzinformationen über das ärmste Land Amerikas ersetzt, doch leider etwas unbeholfen: In den Türrahmen kleben vergrößert ein paar Zeitungsartikel und verweisen auf das Fehlen von ausstellungsbezogenen Texten.

In den fünf Räumen hängen die Fotos etwas eng beieinader, was weiter nicht stören würde, wäre nur ihre Anordnung plausibler. Man ist versucht, im Zickzack zu laufen, um die nur unterschwellig bzw. fragmentarisch angedeuteten Korrespondenzen zwischen den Arbeiten der vielen Fotografen zu entdecken. Manche Bilder brauchen den Kontext, eben wie die Illustriertenfotos die Reportage. Wo es sich um thematisch einsame »Einzelstücke« handelt, muß zuweilen gar ein langer Untertitel erklären, was man eigentlich sieht. So steht beispielsweise unter einer Aufnahme von Alexandra Avakian: »Haus eines Angehörigen der Tonton Macoutes wird von wütendem Mob angegriffen. Freunde des Macoute versuchen — mit Erfolg — ihn in Sicherheit zu bringen. Eine Frau geht wegen des zersplitternden Glases in Deckung.« Ohne diese Kurzgeschichte könnte man die Szene glatt für das Bühnenbild eines Off-Theaters halten — eine hübsch angeordnete Personengruppe, gestochen scharf mit reizvollen Komplementärfarben. Zu glauben fällt dem Auge schwer. Wenn dagegen ein Foto von Maggie Stebert zwei Soldaten auf Kinderjagd zeigt und diese etwas grobkörnig und unscharf ist, ist man konditioniert und sogleich überzeugt, die technischen Mängel als Garanten für Authentizität zu sehen. Wahr oder nicht wahr, wo eindeutig posiert wird, ist man gar nicht erst versucht, sich heimlich solche Fragen zu stellen, es ist wie eine Einladung, die Porträtierten genau anzuschauen. Der schwarze Reitlehrer und die Diplomatentochter hoch zu Roß oder die wirklich rührende und sehr persönliche Aufnahme einer Prostituierten in einem Hotel von Port-au-Prince. Wie eine Puppe, die man auf der Kirmes gewinnt, sitzt sie in ihrem roten Kleid auf dem Bett, drei Stofftiger auf die Volants drapiert — im Unterschied zu vielen anderen »Nuttenfotos« stiehlt dieses Porträt nichts. Und dann gibt es in der Ausstellung noch ein ganz großartiges Schwarzweißfoto von einem Jugendlichen vor einer nächtlichen, vorsätzlich angezündeten Lagerhalle. Er sitzt da ganz ruhig auf einer Kiste und guckt, das Kinn in die Hand gestützt, direkt und nachdenklich in die wahrscheinlich ziemlich teure Kamera. Stellvertretend für die Besucherin der Ausstellung beobachtet er die Fotografin Jennifer Rockwell dabei, wie sie die brennende Dritte Welt anschaut. Dorothee Wenner

Haiti in der NGBK, Tempelhofer Ufer 22, Berlin 61, bis 14. Juni, Mo. bis Fr. 10 bis 17 Uhr, Sa. und So. 13 bis 17 Uhr.