DEBATTE
: Uns aus dem Elend zu erlösen...

■ Der Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern

Vierzig Jahre haben unsere Brüder und Schwestern, die jetzt Mitbürger in den neuen Bundesländern heißen, den sprachlich etwas mißglückten Satz bei allen offiziellen Feiern gesungen, ohne daß jemand so recht an das geglaubt hätte, was er sang: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“

Erstaunlich, daß man die zwei Zeilen nicht längst verboten hatte, waren sie doch mit ihrer Aufforderung, die Initiative zu ergreifen, entweder Ausdruck kapitalistischer Alltagsmoral oder gar Aufforderung zum Umsturz. Als sie den Satz vorübergehend beherzigten, konnten sich die DDR-Bürger sogar von seiner Richtigkeit überzeugen, aber inzwischen hat der Alltag sie wieder eingeholt, und das Lied ist aus der Mode gekommen. Zu sich selbst und ihresgleichen haben sie das Vertrauen verloren: zu ihrer Verwaltung, ihren Schulen, Universitäten, Kultureinrichtungen, zu ihren Autos, zu allem, was bei ihnen wächst und geerntet wird. Vor allem haben sie das Vertrauen zu ihrer Justiz verloren.

Die Regelungen des Einigungsvertrages

Der Einigungsvertrag sieht zwar vor, daß die Richter drüben erst einmal im Amt bleiben — ihre juristische Qualifikation wird grundsätzlich anerkannt —, macht ihre Weiterbeschäftigung aber von der Überprüfung durch Richterwahlausschüsse und dem Bestehen einer mehrjährigen Probezeit abhängig. Die mit sechs Landtagsabgeordneten und vier von den Richtern des jeweiligen Landes gewählten Berufskollegen besetzten Wahlausschüsse sollen prüfen, ob ein Bewerber die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für das Richteramt mitbringt: „Treue zum freiheitlichen, demokratischen, föderativen, sozialen und ökologisch orientierten Staat; moralische und politische Integrität; fachliche Eignung und Fortbildungsbereitschaft“ und schließlich sogar „berufsethische Eigenschaften“.

Die Ausschüsse, die nach dem Beitrittsvertrag schon am 15. März dieses Jahres alle Überprüfungen abgeschlossen haben sollten, fangen gerade erst an. Zunächst mußten schließlich die gewählten Richtermitglieder überprüft werden, und dabei fielen die meisten durch.

Ungute Tradition der westdeutschen Justiz

Während um die Weiterbeschäftigung der rund 2.000 verbleibenden Richter und Staatsanwälte gestritten wird — die 1.000 exponiertesten sind inzwischen Rechtsanwälte geworden —, beschwört der Bundesjustizminister, in seiner großen Not sogar schon in Zeitungsanzeigen, aktive und pensionierte Richter und Staatsanwälte aus den Westländern, sich „zum Dienst bei Aufbau des Rechtsstaats in den neuen Bundesländern zur Verfügung zu stellen“. Die Behauptung, in den alten Bundesländern habe „sich unsere Justiz in mehr als 40 Jahren als Garant für Freiheit und Recht bewährt“, läßt aufhorchen, denn im Katalog zu einer sehenswerten Ausstellung über die Verbrechen der Nazi-Juristen hatte der vorige Justizminister noch von beschämendem Versagen der Nachkriegsjustiz gesprochen. Ob ausgerechnet die Generation, die, von den Nazi-Juristen unmittelbar nach dem Krieg ausgebildet, deren Rechtfertigungsideologien übernommen und dafür gesorgt hat, daß keinem NS-Juristen auch nur ein Haar gekrümmt wurde, berufen ist, „auch für unsere Mitbürger in den östlichen Ländern Demokratie und Recht gelebte Wirklichkeit“ werden zu lassen, muß bezweifelt werden. Jedenfalls ist eine Prüfung der Westrichter auf Treue zum freiheitlichen, demokratischen, sozialen und ökologisch orientierten Staat nicht vorgesehen.

Rechtsstaat und Modernisierung

Unbestreitbar brauchen die Neubürger im Osten mehr Rechtsschutz als vor der Wende: gegen betrügerische Gebrauchtwagenhändler, Wohnungsspekulanten und Betriebssanierer. Ein entfesselter Kapitalismus ohne funktionierendes Rechtssystem würde geradewegs in süditalienische Zustände führen, und die neuen Bundesländer sind schon jetzt ein Dorado für große und kleine Wirtschaftskriminelle. Die Gewährleistung des Rechts im Alltag erfordert auch schon mehr Justizpersonal, als es jemals in der DDR gab, und die Übertragung unseres komplizierten Rechtssystems macht Anleitungen und Einführungen durch Rechtskundige aus dem Westen unumgänglich. Andererseits ist prozessuale Raffinesse nicht alles. Die Richter müssen auch wissen, wovon in einem Verfahren die Rede ist, und sollten die Sprache der vor ihnen Stehenden sprechen, zumindest aber verstehen, und die Verhältnisse kennen, in denen ihre Klientel lebt. Rechtssoziologen haben schon in der alten Bundesrepublik den sozialen Abstand zwischen Richtern und Rechtsunterworfenen stets beklagt. Zwischen West- Richtern und Ost-Publikum wächst dieser ins Unermeßliche. Dem aus Düsseldorf, Göppingen oder Trier stets nur für einige Tage anreisenden Richter, der sich schon zu Hause mit den Leuten, über die er richtet, nur schwer verständigen kann, muß jedes Verständnis für die von 40 Jahren Realsozialismus geprägte Welt fehlen. Und es dürfte einer von Massenarbeitslosigkeit bedrohten Gesellschaft schwerfallen, den für sein Engagement in der DDR stattlich entlohnten Richter aus dem Westen als gelebte Wirklichkeit des Rechtsstaates zu erkennen.

Richter ohne Beamtenstatus?

Auf alle Fälle besser als die noch in der Hitlerjugend sozialisierten Pensionsrichter wären dazu allemal jüngere Rechtsanwälte geeignet, von denen wir im Westen genug haben und denen man — notfalls auch auf Zeit, wie nach dem Krieg in Bremen — ein Richteramt übertragen könnte. Das würde zwar eine Änderung des Richtergesetzes voraussetzen, womöglich sogar der Verfassung, aber wie viele Verfassungsänderungen hat die Einheit nicht schon erfordert. Und schließlich geht es um eine entscheidende Weichenstellung, die die Rechtsentwicklung auf Jahre beeinflussen wird.

In westlichen Gerichtssälen sind Vertreter der Richtergeneration, der wir außer der Begünstigung der Nazi-Juristen auch die Schädelstätten der Rechtskultur in Stammheim, Nürnberg, Schwäbisch-Gmünd und Memmingen verdanken, inzwischen selten geworden; ihr Einfluß war in den letzten Jahren ohnehin geschwunden. Jüngere Kollegen und vor allem eine selbstbewußte Anwaltschaft prägen mehr und mehr das Klima der Verhandlungen. Diese Gegenkräfte fehlen in den Gerichten der neuen Länder jedoch völlig. Eine traditionell durch Privilegien gezähmte Anwaltschaft, die die Freiheit der Advokatur erst noch für sich entdecken muß, und eine ehemals SED-devote und nun durch lange Probezeiten weiterhin in Abhängigkeit gehaltene Richter-Kollegenschaft haben dort ein Vakuum entstehen lassen, das — so oder so — ausgefüllt werden wird.

Demokratie kann nicht administriert werden

Zugegeben, die Aufgabe ist kaum zu bewältigen; neben dem gerichtlichen Alltagsgeschäft sind 40 Jahre SED- Justiz rückabzuwickeln und ihre Opfer zu rehabilitieren. In einer Vielzahl von Verfahren wird die Justiz in den neuen Ländern ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten müssen, denn — so behauptet jedenfalls der Justizminister in dem erwähnten Geleitwort — „die Vergangenheit bewältigen, das können nur diejenigen, die die Vergangenheit mitgestaltet haben“. Und schließlich: „Wer kann heute schon sagen, wie er sich unter anderen politischen Verhältnissen gestern verhalten hätte.“

Erst kürzlich konnte man im 'Spiegel‘ lesen, auf welchen Widerstand die Westrichter drüben stoßen, und auch, daß Erfurter Nudeln und Spreewälder Gurken wieder gefragt werden, und manch einer entdeckt, das Ketchup der Marke „Exzellent“ sei schon immer „tomatiger und einfach natureller“ gewesen als das aus dem Westen. Vielleicht entdecken sie demnächst auch, daß man ihnen nicht den Rechtsstaat hinbauen kann wie einen Plattenbau, sondern daß der erkämpft sein will — von selbstbewußten Bürgern und gegen die Anmaßungen der Staatsmacht. Das kann ihnen kein Westrichter abnehmen, das können sie wirklich nur selber tun. Ingo Müller

Ingo Müller ist Justizbeamter und Publizist, Autor u.a. der Bücher Rechtsstaat und Strafverfahren (1980) und Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz (1987)