Egon Krenz bittet um seine Festnahme

Berlin (dpa/taz) — Zu einer originellen Reaktion auf die Verhaftung von vier ehemaligen Regierungskollegen hat sich jetzt der ehemalige SED-Chef und Staatsratsvorsitzende Egon Krenz durchgerungen: Er forderte die bundesdeutsche Justiz auf, auch ihn selbst festzunehmen, da er ebenso wie Keßler, Stoph und andere Funktionäre mitverantwortlich für die politische Fehlentwicklung in der DDR sei. Allerdings schwächte Krenz sein riskantes Verlangen ab: „Juristisch bin ich mir keiner Verfehlung bewußt.“ Damit spielte er auf das Dilemma der Justiz an, ehemalige Funktionäre der DDR für Delikte zu bestrafen, die im Rahmen der staatlichen und rechtlichen Ordnung der DDR legal waren.

Dieses Dilemma, das den Juristen bereits im Fall Honecker Kopfzerbrechen bereitete, gestand auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gestern ein. Regierungskriminalität könne mit einem Rechtsstaat nur schwer erreicht werden.

Unterdessen hat der Anwalt des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers Keßler gestern Rechtsmittel gegen die Verhaftung seines Mandanten angekündigt, der ebenso wie der ehemalige DDR-Regierungschef Willi Stoph und zwei weitere Mitglieder des früheren Nationalen Verteidigungsrates (NVR) seit Dienstag in Untersuchungshaft in Berlin-Moabit sitzt. Es liege, so Winfried Matthäus, keine strafbare Handlung vor. Sein Mandant habe ihm gesagt: „Es gab keinen Schießbefehl“. In einer Dienstvorschrift von 1962 sei festgelegt worden, daß nur dann geschossen werden dürfe, wenn ein Angriff oder Überfall mit anderen Mitteln nicht mehr erfolgreich abgewehrt werden könne. Falls von Flüchtenden keine Gefahr ausginge, seien Schüsse bei der Festnahme von Grenzverletzern verboten gewesen.

Diese Einschätzung widerspricht ganz offensichtlich der jahrelangen Praxis an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer, wo seit 1961 insgesamt 198 Menschen erschossen wurden. Zudem war im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Honecker ein Protokoll aus dem Nationalen Verteidigungsrat (NVR) vom 3.Mai 1974 entdeckt worden, in dem der „rücksichtslose Gebrauch“ der Schußwaffe gegen Grenzverletzer bekräftigt worden war. Anhand dieses Dokumentes will die Berliner Justiz die Mitverantwortung der vier verhafteten Mitglieder des NVR für den Schießbefehl herleiten.

Keßlers Verteidiger nannte die Annahme einer Fluchtgefahr „völlig absurd“. Sein Mandant habe zwar geplant, am gestrigen Mittwoch mit seiner Frau nach Moskau zu fliegen; doch habe es sich dabei um eine seit letzten Sommer geplante Reise gehandelt.

Auch die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte dementierte die „Unterstellung“, Keßler sollte von ihnen nach Moskau ausgeflogen werden. eis