Die Chancen auf einen Wahlsieg Gandhis standen nicht schlecht

■ Rajiv Gandhis Kongreßpartei versuchte, in den letzten Jahren verlorengegangenes Terrain durch Volksnähe wiederzugewinnen

Für den ehemaligen indischen Premierminister Rajiv Gandhi standen die Chancen gar nicht so schlecht, wieder an die Macht zu kommen. Die meisten Umfrageergebnisse sagten für die Parlamentswahlen dieser Woche einen — möglicherweise knappen — Sieg seiner Kongreßpartei voraus. Damit wäre Gandhi nach seiner Niederlage 1989 erneut indischer Regierungschef geworden.

Dabei hatte Gandhi ursprünglich gar keine Ambitionen gezeigt, die Geschicke des riesigen Landes zu lenken. Obwohl er in den mächtigen Nehru-Clan hineingeboren war, hielt sich der Pilot, der zwölf Jahre für die Indian Airlines arbeitete, lange Zeit von der Politik fern. Für die Nachfolge seiner Mutter Indira Gandhi wurde Rajivs jüngerer Bruder Sanjay aufgebaut.

Erst nach Sanjays Tod ließ sich Rajiv Gandhi im Juni 1981 ins indische Parlament wählen. Bereits im Februar 1983 stieg der frischgebackene Politiker zum Generalsekretär der regierenden Kongreßpartei auf und galt jetzt als engster Berater seiner Mutter. Nach deren Ermordung 1984 übernahm er die Regierungsgeschäfte und schrieb im selben Jahr noch Regierungswahlen aus, die er überlegen gewann.

Doch schon bald begann Gandhis Stern zu verblassen. Korruptionsaffären, religiöse Konflikte und der Bofors-Skandal schadeten seiner Popularität. Bei den Unterhauswahlen im November 1989 mußte der Premier eine vernichtende Niederlage einstecken. Zwar stellte die Kongreßpartei weiterhin die größte Fraktion, doch mit dem Verlust von über 200 Sitzen verlor sie die absolute Mehrheit. Gandhi verzichtete auf eine erneute Regierungsbildung.

Eng mit Gandhis Abstieg war auch das Schicksal der Kongreßpartei verknüpft. Der Kongreß, bereits unter der britischen Kolonialherrschaft vom Urgroßvater geleitet, blieb nach der Unabhängikeit jahrzehntelang die einzige einflußreiche Partei. In den Anfangsjahren des unabhängigen Indiens setzte sich die Kongreßpartei für die Anliegen der Landbevölkerung ein. Doch unter Rajiv Gandhis Vorsitz hat sich die Orientierung der Partei verschoben. Rajiv Gandhi, urban und am Westen orientiert, hatte mehr die Entwicklung Indiens auf den Gebieten Raumfahrt und High-Tech vor Augen. Er verlor den Kontakt zur Landbevölkerung, den er in diesem Wahlkampf wiederherzustellen versuchte.

Doch Indiens Landbevölkerung, auch die unteren Kasten, sind selbstbewußter geworden. Heute geht es für sie nicht mehr darum, schlicht für oder gegen den Kongreß zu stimmen. Neben der jüngst erstarkten Bharatiya Janata Partei (BJP), die mit der Gleichsetzung von Hinduismus und indischer Identität operiert, ist die National Front/Left Front für viele der traditionellen WählerInnen der Kongreßpartei zur möglichen Alternative geworden. Die Janata-Dal- Partei, die nach Gandhis Wahlniederlage im November 1989 die Regierung stellte, hat mit Kommunisten und regionalen Parteien eine Allianz geformt. Ihr Wahlkampfthema: soziale Gerechtigkeit. Fast 65 Prozent der Bevölkerung gehören zu den Unterprivilegierten, das heißt zu niedriggestellten Kasten oder Kastenlosen. „Höhere Kasten“ muß jedoch nicht gleichzeitig „reicher“ bedeuten. Mitglieder niedrigerer Kasten können durchaus ökonomisch besser gestellt sein als die höheren Kasten. Status wird also nicht, oder nicht nur, am Wohlstand gemessen.

Hindus niedrigerer Kasten ebenso wie Moslems waren früher treue AnhängerInnen der Kongreßpartei. Das hat historische Gründe: Der Kongreß hatte sich seit der Unabhängigkeit Indiens zum Anwalt der unterprivilegierten Kasten und religiösen Minderheiten gemacht. Es wurden Gesetze erlassen, die den Schutz der Minderheiten garantieren sollten. Das brachte beispielsweise den Moslem-Männern das Recht, bis zu vier Frauen zu heiraten. Dadurch daß den verschiedenen Minderheiten Sonderrechte gewährt wurden, erscheinen sie — so etwa die Moslems — als homogene Gruppe und betrachten sich auch selber vornehmlich als religiöse Einheit und erst in zweiter Linie als InderInnen. Jahrzehntelang operierte der Kongreß nach diesem Prinzip: Religiöse Minderheiten bekamen einige verbriefte Sonderrechte, und der Kongreß bekam dafür ihre Stimme.

Doch die Zugeständnisse zum Beispiel an die Kastenlosen blieben Makulatur, da sie nicht mit einem effektiven Programm zur Bekämpfung der Armut verbunden waren. Für die Kastenlosen sind Universitätsplätze reserviert, doch die meisten von ihnen können ihre Kinder noch nicht einmal zur Schule schicken. Die Sonderrechte halfen nicht, die sozialen Unterschiede in der indischen Gesellschaft zu nivellieren, sondern die Unterschiede zwischen sozialen und religiösen Gruppen wurden gesetzlich zementiert. Der Status quo blieb erhalten, und die Parteien können in ihrer Wahlpropaganda gezielt Blöcke von WählerInnen ansprechen mit der Zusage, ihre jeweiligen Sonderrechte würden ihnen erhalten bleiben.

Doch Moslems wie niedriggestellte oder kastenlose Hindus beginnen sich vom Kongreß abzuwenden. Zum ihrem neuen Hoffnungsträger ist die National Front beziehungsweise deren stärkste Partei, die Janata Dal, geworden. Die Janata Dal hatte in den wenigen Monaten, in denen sie die Regierung stellte, einen Versuch unternommen, mittels Quotierung den unteren Kasten vermehrt zu den begehrten staatlichen Jobs zu verhelfen. Der Janata-Dal-Premierminister V.P. Singh zog sich damals den Zorn der höhergestellten Kasten zu, die sich um die Möglichkeit eines einigermaßen fairen Konkurrenzkampfes um die raren Jobs beraubt sahen. Hinzu kam, daß beispielsweise viele StudentInnen, die aus höheren Kasten wie etwa den Brahmins stammen, ökonomisch schlechter gestellt sind als manche ihrer KommilitonInnen aus niedrigeren Kasten. Daher sind die Familien dringender darauf angewiesen, daß ihre Kinder nach dem Studium sofort eine feste Arbeitsstelle bekommen. Der damalige Premierminister V.P. Singh ignorierte die Proteste gegen die Erhöhung der Quotierung und stellte sie vereinfacht als Angst der höheren Kasten um ihre Privilegien dar.

Sein Image als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit ist jedoch nicht ungetrübt. Von WählerInnen wie von politischen BeobachterInnen wird die Job-Quotierung auch als V.P. Singhs politische Überlebensstrategie interpretiert. Wiederum wurde ein sozialer Sektor als fest umrissene Gruppe identifiziert und dieser bestimmte Sonderrechte versprochen. Und wieder wurden die Grundlagen der wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligung nicht angegriffen. Doch die Rechnung für ihn scheint aufzugehen: Viele Wähler der armen Landbevölkerung, untere Kasten und Moslems, die früher für den Kongreß gestimmt haben, sind zur Janata Dal übergewechselt. Sheila Mysorekar