Über Ökologie und Demokratie

Die Chancen der GAL nach Neumünster, grüne Ideologien und Erfahrungen Ein Interview mit dem GAL-Kandidaten und Verkehrspolitiker Martin Schmidt  ■ Von Klaus Hartung

taz: Die Hamburger GAL, lange Zeit linke Zensurinstanz für grüne Abweichung, hat sich kurz vor der Hamburger Wahl als politische Kraft zurückgemeldet. Ist das Desaster der Bundespartei in Neumünster nicht eine Gefahr für die grüne Rekonvaleszenz?

Martin Schmidt: Wir haben eine doppelte Entwicklung der Grünen. Auf der einen Seite hat sich in Neumünster die alte grüne Leidenschaft am großen Zerwürfnis, am großen Hick-Hack bewährt. Auf der anderen Seite hat sich unter der Oberfläche was abgespielt, was dem sehr ähnlich ist, was in Hamburg bei der GAL passierte: Nämlich die Gemeinsamkeit der Grünen ist stabilisiert worden bei Verlust der Ränder. Die Gemeinsamkeit in Hamburg besteht jedenfalls darin, daß die ehemaligen Realos oder Linke sich gegenseitig davon überzeugt haben, daß man zusammen eine ökologische Reformpartei machen kann. Wechselseitige Verratsvorwürfe sind überflüssig.

Also hat man sich endlich zur Anerkennung von Banalitäten durchgekämpft?

Ja, das war ja auch notwendig. Das war vor allem bei den Grünen notwendig und schwierig, weil sie höhere Ansprüche haben, die eben so leicht nicht zu verwirklichen sind.

In Neumünster haben sich die Grünen ja wieder nur um den Kompromiß mit ihren Flügel gekümmert, der niemand mehr wirklich interessiert...

...um den Kompromiß mit der eigenen Geschichte.

Behindert Neumünster im Wahlkampf?

Natürlich. Viele Leute sagen, so sind sie und so bleiben sie, die Grünen. Der freundliche Zuspruch überwog an den Wahlständen.

Die Grünen waren ja einst erfolgreich, weil sie gewissermaßen eine parteiförmige Kritik am Parteiensystem waren. Wenn es ökologische Reformpartei heißt, dann konkurriert sie doch, da die politische Mitte in Deutschland grün wird, mit allen Parteien.

Aber diese parteiförmige Parteikritik war bei den Grünen ja immer nur hochmoralisch. Diese grüne Moral ist unwiderrruflich zerbrochen. Geblieben ist der Anspruch, in diesem Parteiengefüge nicht Normalisierungsfaktor, sondern Aufklärungsfaktor zu sein. Diesen Anspruch würde ich nicht nur weiter aufrechterhalten. Das halte ich sogar für erfolgversprechend. Die Inhalte der Grünen sind noch immer so, daß sie eine Zumutung für die anderen Parteien sind; daß die anderen Parteien sich dazu verhalten müssen.

Sie notieren grüne Fortschritte, als ob es sich um Rekonvaleszenz handle. Haben die Grünen nicht ihre Chancen schon verpaßt?

Das kann ja sein. Niemand kann da was voraussagen. Es kann durchaus sein, daß die Leute sagen, die grünen Ziele in Ehren, aber die anderen Parteien machen es besser. Die Aufgabe der Grünen jetzt heißt ja nicht mehr, den Leuten mit Katastrophenszenarien zu erklären, wie schlimm es ist. Das wissen sie inzwischen. Sondern es geht darum, mit Modellen und neuen Entscheidungsformen einen Weg zu finden, durch den wenigstens die schlimmsten Folgen unseres wirtschaftlichen und politischen Systems gebändigt werden.

„Kapitalismusreparatur“ würden Fundis sagen!

Wenn man glaubt, daß man die gegenwärtige Weltgeschichte als Kapitalismus beschreiben soll, dann ist das eben Kapitalismusreparatur.

Die grünen Themen also: Der Ansatz war, alle Inhalte, Verkehr, Luft, Atomenergie etc. haben eine gesellschaftskritische Dimension. Allgemein ist Gesellschaftskritik aus der politischen Doktrin verschwunden. Sind nun auch die Grünen von diesem Prozeß eingeholt?

Auf der einen Seite sind wir von den Niederlagen der Grünen geprägt. Uns ist es ja nicht gelungen, den Atomstrom abzuschaffen. Wenn man also nicht auf ein zweites Tschernobyl setzt, muß man den Kleinkrieg führen. Und der ist notwendigerweise erfolgsorientiert. Auf der anderen Seite ist die gesellschaftsändernde Sicht nicht tot. Die ganzen ökologischen Probleme sind ja nicht nur auf so eine mickrige Großstadt wie Hamburg bezogen, in der man gerade einmal schöner leben könnte, sondern sie beziehen sich auf die ganze Welt. Als grobes Ziel — obwohl ich große Worte vermeiden möchte —: Man sollte dafür sorgen, daß man in Hamburg so leben kann, wie alle leben können müßten.

Hamburg als grüner Modellversuch? Das ist gut für die Betroffenen. Aber ist das nicht das Programm für den saturierten grünen Mittelstand?

Das komplizierte politische Problem ist doch, wie kann man eine Großstadt so organisieren, daß man in allen Großstädten so leben kann. Dann wird mehr verlangt, als dem Mittelstand nur den ökologischen Segen zu vermitteln. Dann wird ein politischer Entwurf verlangt, der alle Bevölkerungschichten einschließt und der auch über die Grenzen Hamburgs hinaus zielt. Sonst wäre grüne Politik elitär.

Und die GAL hat einen solchen Entwurf?

Den hat sie nicht. Es geht, auf die Strukturen der politischen Entscheidungen und auf die Struktur der Politik selbst abzuzielen. Die Grünen müssen dafür sorgen, daß die Menschen, als Gruppen und als Individuen, ihre Lebensentscheidungen wieder selbst fällen, die sie an die Staatsmacht delegiert haben.

Also doch wieder Basisdemokratie?

Basisdemokratie ist ja eine sehr beschränkte Form von Demokratie. Das hieß in der Praxis: Wenn irgend- eine Bürgeriniative etwas forderte, dann war das gültig, vor allem für die Grünen. Es sei denn, man konnte sie als rechtsstehend denunzieren. Was ich mir als Demokratie vorstelle heißt, daß Entscheidungsprozesse über den Rahmen von Bürgerinitiativen hinausgehen, so daß also Menschen überhaupt ihre nah- und fernerliegenden Dinge entscheiden können.

Nicht Bürgerinitiativen, sondern initiative Bürger?

Naja, ich will keine totalitäre Demokratie einführen. Nicht jeden Abend Versammlung oder Blockwart fragt nach. Es geht darum, daß die Entscheidungen, die die Menschen sowieso täglich fällen, eine andere politische Form finden. Jeder entscheidet sich ja täglich, wie er mit den Problemen des Verkehrs und des Mülls umgeht. Und diese Entscheidungen sind durch die staatlichen Entscheidungen vorgeformt. Da aber die Menschen in der Regel besseres und vernünftigeres wollen, als der Staat vorgibt, möchte ich ihnen die Freiheit geben, das zu tun.

Schöne Worte! Und konkret heißt das?

Zwei Drittel aller Menschen in Großstädten wollen mehr öffentlichen Verkehr; aber die Mehrheit besteigt täglich ihr Auto. Diesen Gegensatz muß die Politik fruchtbar machen. Dazu müssen Möglichkeiten freigesetzt werden und es muß ein gewisser Zwang ausgeübt werden. Vor allem aber muß ein Dauerdialog entstehen. Im Unterschied zur früheren Politik geht es dabei nicht um das „sofortiges“ Ende der Übel dieser Welt.

Wie soll denn der unvernünftige Konsument in diesen hochwichtigen Dialog treten?

Die Menschen sind ja viel dialogsüchtiger, als die Politiker das meinen. In einer Großstadt wie Hamburg gibt es täglich alle möglichen Auseinandersetzungen über alle möglichen Probleme. Die Menschen werden durch das gegenwärtige politische System täglich frustriert und zum Narren gehalten. Denn der Staat behält sich die Entscheidungen vor. Ich kann die Menschen nicht hindern, ihren Untergang zu wollen. Aber ich kann die Bedingungen schaffen, sich auch für das Gegenteil zu entscheiden. Das heißt: sehr viel mehr plebiszitäre Elemente. In Hamburg könnte durchaus in jedem Monat in irgendeinem Stadtteil eine Volksabstimmung stattfinden. Hamburg ist der zentralistische Staat in Deutschland. Es fehlt praktisch die kommunale Selbstverwaltung, die das Grundgesetz verlangt.

Ein wirksames Wahlkampfthema ist die Demokratisierung der Hamburger Verhältnisse aber nicht!

Ich glaube, das muß die politische Klasse für sich lösen. Für eine Bezirksverwaltungsreform werden die Massen nicht auf die Barrikaden gehen. Das ist ein Durchbruch, der irgendwie auf der politischen Ebene erreicht werden muß. Danach werden sich die Leute das Recht nie wieder nehmen lassen und es wird ungeahnte Dinge freisetzen. So tobt jetzt in Schleswig-Holstein heftig der Schulkampf.

Wäre das ein „Essential“ für eine rot-grüne Koalition?

Ein ganz wichtiger Punkt. Und das wissen auch alle Beteiligten.

Signale von der SPD?

Die SPD ist mehrfach mit der Verwaltungsreform gescheitert, weil sie keine Macht von oben abgeben wollte. Sie wird also lernfähig sein müssen. Aber an diesem Prozeß der Demokratisierung Hamburgs müßten sich alle Parteien, auch die CDU beteiligen. Ich bin da optimistisch. Die Zeit ist reif.

Kann man als GAL-Politiker noch so optimistisch sein?

Früher wäre ich skeptischer gewesen. Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß bei allen Entscheidungen, wo die Grünen federführend waren, sie die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite hatten. Es ist aber den Grünen nie gelungen, diese Mehrheit real darzustellen.

Also Demokratie vor Ökologie in Hamburg?

Nein, es sind zwei Seiten desselben Prozesses.

Die GAL plötzlich als demokratische Kraft?

Es ist ein Risikospiel. Die GAL braucht neue Leute. Wir müssen mehr werden. Wir werden eine Thea Bock nicht wieder gewinnen, aber solche Leute müssen wir suchen. Vor allem aber: Die großstädtische Mischung ist nötig.

Das Großstädtische ist aber das Problem. Stecken nicht die Grünen zu sehr in einer biederen Kiezkultur mit Aggression gegen den großstädtischen Kulturbetrieb? Beispiel: Floratheater!

Das ist richtig. Aber man muß sehen, daß die noch immer gültige Methode der Stadt, solche Viertel zu sanieren, dazu führt, daß solche Konflikte wie um ein Varieté-Theater bürgerkriegsähnlich abgehandelt werden. Es ist einfach ein typisches Hamburger Phänomen, daß so etwas zu einem Städtekrieg hochgespielt wird, wo die einen um den Standort Hamburg kämpfen und die anderen gegen das Schweinesystem.

Das andere Hamburger Symbol: Was wird aus der Hafenstraße?

Die Hafenstraße ist politisch nun wirklich ein harmloses Problem. Sie wird nicht geräumt. Das wissen alle Beteiligten. Ich schätze die Vernunft der SPD an dieser Stelle hoch ein.

Wenn ich die GAL-Wahlprogramme anschaue, dann herrschen da die altbekannten Themen, Verkehr, Müll und Atom; die Zeitenwende, die Vereiningung, die Umwälzung Osteuropas schlägt sich nicht nieder?

Nein, alte Hüte sind das nicht. Hamburg ist besonders rückständig, gemessen an Westdeutschland. Das bedingt den Rang dieser Themen. Die GAL ist mithin auch das Abbild herrschender Politik.

Mit der Vereinigung hat sich doch die Geographie Hamburgs verändert und das grüne Programm malt immer noch am schöneren Hamburg?

Das ist richtig. Aber der Blick nach dem Osten hat noch keine Konzepte gezeugt. Es gibt bislang keine Debatte darüber. Es ist eine grüne Erblast: Unsere ökologischen Vorstellung der letzten zehn Jahre waren auf das schrumpfende Hamburg bezogen. Nun aber wird die Stadt wachsen. Hamburg wird eine Einwandererstadt werden müssen.

Das ändert doch prinzipiell die ganze grüne Vision? Es muß doch gebaut werden!

Auch diese Diskussion muß noch geführt werden. Was an Landschaft geopfert werden kann, muß nun neu abgewogen werden. Es muß zwischen Grün und Grün unterschieden werden.

Die Grünen haben vor allem vor der Vereinigung mit großem Pathos Bleiberecht für alle gefordert. Wie steht es damit?

Wenn man dabei bleibt, dann wird das dazu führen, daß man hilflos dem Dichtmachen der Grenzen gegenübersteht. Das schöne Westeuropa wird versuchen, eine Vorwärtsverteidigung gegen die Einwandererströme zu entwickeln. Wenn man dagegen was machen will, muß man sich auf Quoten einlassen. Der grundgesetzliche Schutz für Asylsuchende bleibt natürlich davon unberührt. Und bei den Quoten geht es darum, daß ein Querschnitt der Bevölkerung kommen darf; d.h. eben nicht nur Ingenieure, aber auch nicht nur die Armen. Gegenwärtig könnte das heißen: Da jetzt sowjetische Juden nach Deutschland kommen wollen und Hamburg 1933 etwa 35.000 Juden hatte, könnte man sagen, eine ebenso große Anzahl könnte sich hier ansiedeln.

An neuen Themen nach der Vereinigung mangelt es der GAL nicht. Die Vereinigung selbst hat sie verpaßt. Ist das nicht schon ein historisches Urteil über Sie?

Im Vergleich zu den anderen Parteien ist die Ignoranz gegenüber der neuen politischen Lage bei den Grünen nicht so viel größer. Die Neuorientierung auf die neue, die osteuropäische Perspektive und das Ende der gewohnten westdeutschen Sicherheit wird bei den Grünen noch nicht diskutiert. Skeptisch bin ich auf jeden Fall. Wir können allerdings nicht so tun, als könnten wir wie vor zehn Jahren neu anfangen und jetzt alles besser machen. Was wir jetzt sagen können: Wir machen den nächsten Schritt und haben damit vielleicht die Voraussetzung, die neuen Fragen aufzunehmen.