DEBATTE
: Verfehlter Neuanfang

■ „... einfach mehr beschlußfreie Räume“/ Der DGB in der Ex-DDR

Schon bevor die Veränderung der sowjetischen Außenpolitik und die demokratischen Revolutionen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei die Mauer zum Einsturz brachten, wurden die Perspektiven der Gewerkschaften der alten Bundesrepublik nicht rosig beurteilt. Ihre politische und soziale Phantasie wurde nicht nur von Lesern der taz bezweifelt.

Nach dem Zerfall des FDGB wird sichtbar, daß die schlichte Übersetzung der Politikstrategien und Organisationsmuster der bundesdeutschen Gewerkschaften auf das Gebiet der ehemaligen DDR nichts zum Aufbau einer demokratischen Gewerkschaft beiträgt. Sie läßt sich ebensowenig administrativ verordnen wie die Institutionen einer demokratischen Gesellschaft.

Gewerkschaften und Runde Tische

Nehmen wir zum Beispiel eine Stadt im Süden der ehemaligen DDR: Hier organisiert ein Aktiver der ersten Stunde eine Art lokalen „runden Tisch“. Die Stadt, deren Existenz hauptsächlich von einem Großbetrieb abhängt, der in naher Zukunft kräftig abgespeckt werden muß, um weiter zu existieren, steht vor einem Kollaps. Verzweiflung, Kriminalität und Desorientierung breiten sich aus. Und mit ihnen Ressentiments und offene Gewalt gegen Fremde.

Der Kollege kennt nun zwar aus der Zeit der Wende die meisten Betriebsräte und wirklich aktiven Gewerkschafter. Die, so sagt er, kriegt er auch schnell versammelt. Probleme hat er jedoch mit dem lokalen DGB und den am Ort ansässigen Einzelgewerkschaften. Sie sind nach seinen Worten nur damit beschäftigt, Mitglieder zu werben und „ihre“ Betriebsräte zu organisieren. Für alle weiteren Aktivitäten brauchen sie erst Beschlüsse ihrer Vorstände. Im Höchstfall demonstrieren sie für die Weiterführung besagten Betriebes. Die Zukunft der Stadt, die marodierenden, entwurzelten Jugendlichen, die durch manifeste und latente Gewalt bedrohten Polen, Russen und Afrikaner sind für sie kein Thema. Der Kollege finanziert und organisiert vieles alleine. So oder so ähnlich lassen sich viele Städte in der ehemaligen DDR beschreiben. Die Organisationen, die zumindest die Ansprüche und Forderungen und praktischen Alternativen der Arbeitnehmer vor Ort in ein Konzept lokaler Strukturpolitik einzubringen hätten, den Selbstorganisationsprozeß der betroffenen Arbeitnehmer befördern sollten, erweisen sich selbst für diese Aufgabe als zu unpraktisch. Aufgaben, die darüber hinausreichen, sind gar nicht erst ihr Thema.

Gesellschaftliche Öffnung der Gewerkschaften

Ihr Politikmuster, aus der ehemaligen Bundesrepublik in die ehemalige DDR übertragen, konzentriert sich auf die Regelung überbetrieblicher branchenspezifischer Fragen, alle darüber hinausgehenden Themen erscheinen zwar in Forderungspaketen, ihre Bearbeitung und Umsetzung wird aber Staat und Unternehmen abverlangt. Die Gewerkschaften sehen sich nicht in der Verantwortung, mit gewerkschaftlichen Mitteln und Formen der Selbsthilfe zur Verwirklichung ihre Ziele beizutragen. Oder umgekehrt, denjenigen Organisationen, die sich mit diesen Fragen befassen, den gesellschaftlichen Raum zuzugestehen, der nötig wäre, um mit ihnen in Fragen, die nicht im engeren Sinne gewerkschaftliche sind, gesellschaftliche — und nicht etatistische — Bündnisse eingehen zu können. Nun ist nicht zu bezweifeln, daß Tarifverträge ausgehandelt werden müssen (bliebe zu fragen, welche). Ebenfalls unbezweifelbar notwendig sind gewerkschaftliche Anforderungen an staatliche Infrastrukturpolitik (bleibe auch zu fragen, welche). Auch dem Rechtsschutz muß Beachtung geschenkt werden. Davon alleine ensteht jedoch noch keine demokratische Gesellschaft. Und eben darum geht es in der ehemaligen DDR.

Gewerkschaften als Serviceunternehmen

Wenn, wie im Falle der besagten Stadt im Süden der ehemaligen DDR, nicht in sehr kurzer Zeit die Gewerkschaften vor Ort ihre Büros unmittelbar in Serviceorganisationen für Bürgerbeteiligung und Bürgerselbsthilfe verwandeln, wird ihnen noch nicht einmal ihr eigener Aufbau gelingen. Sie müssen alles daran setzen, daß etwa die Betriebsräte (und zwar nicht getrennt nach Branchen) sich zusammenfinden können mit dem Arbeitsamt, den örtlichen Unternehmern, Wirtschaftsberatern und Fachleuten für berufliche Weiterbildung, um über die Zukunft der Stadt zu sprechen. In diesen Büros muß zusätzlich Platz und Papier und Geld sein für die lokale Gruppe ehemaliger politischer Häftlinge, die ihre Rehabilitationsanträge formulieren bzw. sich hierüber informieren lassen. Hier muß Platz, Geld und Unterstützung für Selbstorganisations-, Selbsthilfe- und Beratungsaktivitäten sein, die aber jedem Bewohner von Halle, Leipzig und anderen Städten sofort geläufig sind. Die Unterstützung, Organisierung und Vervielfältigung solcher Aktivitäten muß neben dem unmittelbar innerbetrieblichen Engagement absolute Priorität haben. Jedem, der Gewerkschaften und ihre Funktionäre aus den alten Bundesländern kennt, mögen solche Vorstellungen reichlich illusorisch erscheinen. Eine örtliche DGB-, IG-Metall-, IG-Chemie- etc. Verwaltung funktioniert nach völlig anderen Prinzipien. Nirgendwo sind sie Serviceinstitutionen für Selbsthilfe, Selbstorganisation und Beratung. Wann und wo aber, wenn nicht in dieser Situation in den neuen Bundesländern, sollte ein solcher Prozeß begonnen werden? Wir brauchen, so formulierte es der stellvertretende DGB-Vorsitzende in der neuesten Nummer der 'Gewerkschaftlichen Monatshefte‘, „einfach mehr beschlußfreie Räume“ (Ulf Fink).

Ursachen des verfehlten Neuaufbaus

Die Gründe, warum ein solcher Ansatz des Neuaufbaus von Gewerkschaften bisher in der ehemaligen DDR noch nicht zum Zuge kam, sind leider sehr gewichtig. Eine Diskussion über die Ausdehnung lokaler und nicht nur unmittelbar auf die Arbeitsplätze bezogene Politik gab es ja auch in der ehemaligen Bundesrepublik vor dem Fall der Mauer. Eine solche Politik kam hier nicht zustande, da ein solches Politikmodell faktisch den am Ort bestimmenden Einzelgewerkschaften das Politikmonopol nimmt.

In der ehemaligen DDR ist der Aufbau der Gewerkschaften aus Kommune und Betrieb deshalb bisher nicht zustande gekommen, weil nach den vergeblichen Bemühungen um eine Reform des FDGB bei bundesdeutschen Gewerkschaftern die Angst vor dem raschen Entstehen von berufsständischen Organisationen und damit der eigenen Bedeutungslosigkeit grassierte. Mit dem furchtsamen Blick in die eigene Kasse und aus traditioneller Ablehnung einer starken Rolle des DGB übertrugen sie Organisations- und Politikmuster. Da in den Betrieben und Kommunen der DDR keine eigenständige, wirklich ernst zu nehmende Bewegung entstand, die unabhängige, authentische Interessenvertretungen hervorgebracht hätte, und die Arbeitnehmer der DDR eher auf die bundesdeutschen Gewerkschaften warteten wie auf westliches Management, verlief dieser Übertragungsprozeß sehr rasch. Beschleunigt wurde er noch durch das Heer der arbeitslosen und anpassungsbereiten ehemaligen FDGB-Funktionäre, die sich eilends in diese Politikmuster einpaßten.

Für den Neuaufbau einer demokratischen Gesellschaft in der ehemaligen DDR, die ja nach der rechtlichen Übertragung des Systems der Bundesrepublik erst entstehen muß, ist das so übertragene Organisationsmodell kontraproduktiv. Es blockiert Engagement, Selbstbeteiligung und Selbsthilfe. Es stützt und erhält passive Haltungen, bietet den Arbeitnehmern vor Ort keine Möglichkeiten der Teilnahme und der Selbstgestaltung. In den Gewerkschaften fürchtet man sich davor, die „beschlußfreien Räume“ zuzugestehen, da absehbar ist, daß, einmal angestoßen, ein solcher Prozeß zu einer heftigen innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung um zukünftige Aufgaben führen würde. Diese Furcht sollte allerdings weniger schwer wiegen, als der absehbare Desintegrationsprozeß der Gesellschaft der ehemaligen DDR und die Bedeutungslosigkeit der Gewerkschaften in ihrem Gefolge. Martin Jander

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Er arbeitet im Bereich Gewerkschaftsforschung. Bis Oktober 1990 war er Mitarbeiter in der Bildungsabteilung beim ÖTV-Hauptvorstand.