INTERVIEW
: „Nach Fehlverhalten des Parlaments nicht aufgeben“

■ Wolfgang Ullmann, Mitarbeiter des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder“ und Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90/Grüne, zu den Entwürfen einer neuer Verfassung

taz: Sie haben immer hartnäckig darauf bestanden, daß der Vereinigungsprozeß ein Verfassungsprozeß sein muß. Wie äußert sich das in dem Verfassungsentwurf, den Sie gestern zusammen mit dem Kuratorium vorgestellt haben?

Ullmann: Zunächst: Wir insistieren. Es kann sich nicht nur um ein paar Verfassungsänderungen handeln. Wir wollen vielmehr auf der Spur des Grundgesetzes bleiben. Das Grundgesetz sieht eben vor, daß bei der Vereinigung das ganze Volk in freier Selbstbestimmung sich eine Verfassung geben muß. Weiterhin: Es muß endlich einmal ausgesprochen werden, was dieser Vorgang der Vereinigung denn politisch sein soll. Es kann doch nicht nur Währungsunion und monitärer Materialismus sein. In diesem Anspruch liegt jedenfalls die historische Legitimation der Verfassungsdiskussion.

Ein solcher Verfassungsprozeß setzt aber die Gleichberechtigung der beiden Deutschlands voraus. Das ist doch jetzt nur noch eine Fiktion?

Ich denke nicht. Inzwischen hat auch die Öffentlichkeit in den alten Ländern wahrgenommen, daß man mit dem Triumphalismus gegenüber der alten DDR nicht weiterkommt. Inzwischen haben auch Politiker gemerkt, daß die Kompetenz von Bonn aus überhaupt nicht ausreicht, um der neuen Herausforderung gewachsen zu sein.

Das begründet aber eher die Notwendigkeit dieser Gleichberechtigung. Tatsächlich ist sie doch mit 1989 dahin. Ist es jetzt nicht eine schlechte Zeit für die Verfassung?

Ich denke, es ist umgekehrt. Gerade weil 1989 nur Anschlußpolitik betrieben wurde, ist Verfassungspolitik um so notwendiger, wenn man nicht gegen das Grundgesetz und seine Gleichheitsforderungen verstoßen will. Das ist nicht nur politische Philosophie, sondern eine schlichte Existenznotwendigkeit. Wenn die Deutschen nicht nur ihr wechselseitiges Mißvergnügen gegeneinander äußern wollen, dann müssen sie zu einer gemeinsamen politischen Position finden.

Dann käme der Verfassungsschöpfung die Versöhnungsaufgabe zu, die im Prozeß der Vereinigung verfehlt wurde.

Könnte man sagen. Aber ich bin etwas optimistischer. Wenn diese Verfassungsaufgabe ernst genommen würde, wäre es noch nicht zu spät.

Die Frage des Verfassungsrates ist ein Schlüssel: die Koalition will in diesem Ausschuß ihre parlamentarische Mehrheit durchsetzen. Gelingt ihr das, kann man sich die Verfassungsdiskussion doch schenken?

Wir wissen noch nicht, was wir dann tun. Auf keinen Fall können wir nach einem derartigen Fehlverhalten des Parlaments aufgeben. Dann wird die öffentliche Diskussion um so wichtiger. In der Koalition gibt es Abgeordnete, die eine solche Blamage vermeiden wollen. Schließlich schreibt ja das Grundgesetz bindend vor, was in dieser historischen Situation zu geschehen hat.

Gibt es Signale aus der Koalition?

Nun, ich habe aus den Reihen der Koalition Zuspruch bekommen, nach meiner Bundestagsrede. Allerdings eher im stillen Winkel.

Die Verfassungsdebatte begann mit dem Runden Tisch. Welche Ideen aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches sind in den Entwurf des Kuratoriums aufgenommen worden?

Die Runde-Tisch-Idee selbst ist überhaupt noch nicht dran. Woran man sehen kann, wie maßvoll wir sind. Es gibt Ansätze wie die Idee des ökologischen Rates. Aber sonst handelt es sich um den Ausbau bestehender Elemente des Grundgesetzes: die Erweiterung der Grundrechte, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnung; die Beachtung der ökologischen Voraussetzungen für die Grundrechte; soziale und politische Gleichstellung der Frau. Der Föderalismus wird weiterentwickelt. Es wird vor allem aus dem dürren Begriff „Abstimmung“ in Artikel 20 die Bürgerbeteiligung als Verfassungselement entfaltet.

Es gibt bei der jetzt anstehenden Verfassungsdebatte einen Konsens aus gegensätzlichen Motiven. Auf der einen Seite Vereinigung als Verfassungsprozeß, auf der anderen Seite die Koalition, die möglichst schnell das Grundgesetz an die neue Situation und die veränderte Weltlage anpassen will. Ist da nicht die Gefahr groß, daß dann ein Tauschhandel ensteht und gewissermaßen Bundeswehreinsatz gegen Ökologie als Staatsziel angeboten wird?

Die Gefahr besteht, und manche stellen sich das so vor. Aber ich glaube, man kann die Verfassungsdebatte nicht mehr auf einen interfraktionellen Tauschhandel reduzieren. Außerdem hat der Einigungsvertrag mit Artikel 5 eine bestimmte Tagesordnung festgesetzt, an der auch die Koalition nicht vorbeikommt.

Aber wenn die Debatte auf Parlamentarier beschränkt bleibt, wird es Tauschhandel geben!

Gewiß. Aber die Verfassungsdebatte läuft ja schon außerhalb des Parlaments. Unser Kongreß am 16. Juni in der Paulskirche wird das noch einmal intensivieren. Außerdem werden Konsultationen mit anderen verfassunggebenden Aktivitäten in anderen Ländern wie Osteuropa, Südafrika und Kolumbien, organisiert. Hinzu kommt, daß die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung reflektiert werden muß, die ja schon in Straßburg ansatzweise diskutiert wurde. Auch eine UNO-Verfassung steht zur Debatte, da ja der Sicherheitsrat in seiner jetzigen Funktionsweise gezeigt hat, daß er den Anforderungen einer veränderten Welt nicht genügt hat. Interview: Klaus Hartung