Ende einer Dynastie

Am Freitag wurde der Leichnam Rajiv Ghandis am Ufer des Heiligen Yamuna-Flusses eingeäschert/ Nachdem seine Witwe es abgelehnt hat, sein Amt zu übernehmen, halten in Indien die Spekulationen über mögliche Nachfolger an  ■ Aus Neu-Delhi Sheila Mysorekar

Neu-Delhi im Zeichen der Trauer um Rajiv Gandhi. Am Freitag nachmittag sind alle Geschäfte geschlossen, die Menschen warten an den Straßen auf den Trauerzug, der den Leichnam des am Dienstag ermordeten Rajiv Gandhis zur Beisetzungsstätte am Heiligen Yamuna-Fluß bringen soll. Am Mittag verläßt der blumengeschmückte und mit der indischen Flagge bedeckte Katafalk die Residenz Gandhis Großvaters Jawaharlal Nehru, wo der Tote aufgebahrt worden war. Musikkapellen und Einheiten von Luftwaffe, Heer und Marine schreiten voran. Tausende säumen den Weg, über dem Zug dröhnen Hubschrauber, die zur Überwachung eingesetzt worden sind. Eine unübersehbare Menschenmenge folgt dem Trauermarsch, zu Fuß oder auf den Dächer von Autos. Die Menschen weinen und rufen Abschiedsworte, als der Wagen vorbeifährt. Ein kleiner Junge neben mir will etwas rufen, als der Katafalk vorbeizieht, doch er bringt kein Wort heraus, schlägt die Hände vor das Gesicht und weint.

In dem Park Shakti Sphal am Ufer des Yamuna, wo auch schon Indira Gandhi und ihr jüngster Sohn Sanjay eingeäschert worden sind, warten Tausende auf die Ankunft des Zuges, singen religiöse Lieder. In abgezäunten Bereichen sitzen die Staatsgäste. Abgesandte aus 38 Ländern sind gekommen, darunter BRD-Außenminister Genscher, US-Vizepräsident Quayle, dessen sowjetischer Kollege Gennadi Janajew und Prinz Charles. Die Hitze brennt bei 40 Grad im Schatten.

In der Mitte des Platzes ist auf der roten Erde ein hoher quadratischer Holzstoß aufgebaut, bereit für die Kremation. Die Priester warten. Endlich trifft der Trauerzug ein. Die Soldaten in Galauniformen gehen langsamen Schrittes voran. Der Lärm der Hubschrauberrotoren mischt sich mit den religiösen Gesängen. Eine Bewegung geht durch die Menge. Die Menschen halten Fotos von Rajiv in die Höhe, klettern auf Bäume, um bessere Sicht zu haben. Dann wird der Leichnam auf den Holzstoß gelegt, bedeckt mit der indischen Fahne. Der Priester und die Familie sammeln sich. Die Frauen sind in Weiß gekleidet, der Trauerfarbe Indiens. Die Menschenmassen werfen sich nach vorne, um mehr zu sehen und werden von Polizisten mit langen Bambusstöcken zurückgehalten. Dann wird die Flagge von dem Toten heruntergenommen und Rajivs 22jähriger Sohn Rahul vollzieht die letzten Riten. Ein alter Hindupriester mit langen weißen Haaren und Bart betet mit ihm. Rosenblätter, Kokosnüsse und Erde werden über den Leichnam gestreut, und zuletzt legt die Familie Sandelholzscheite darauf. Rahul Gandhi umrundet den Holzstoß dreimal und zündet ihn dann an. Die Ära Gandhi geht zu Ende.

Erst nach dem Begräbnis solle die Nachfolge Rajiv Gandhis in der Kongreßpartei entschieden werden, hatten die Sprecher der Partei erklärt, nachdem die Witwe des Parteichefs es abgelehnt hatte, sein Amt zu übernehmen. Frau Gandhi, die am Tag nach der Ermordung ihres Mannes überraschend von einer Arbeitskommission zur neuen Parteivorsitzenden ernannt worden war, hatte mit ihrer Antwort bis Donnerstag gezögert. Das Erstaunen über ihre Ernennung war noch nicht abgeklungen, als die Gerüchteküche Neu-Delhis von neuem zu brodeln begann. Wer wird den nun wirklich Nachfolger Rajivs und übernimmt die FÜhrung der mit der Geschichte des Landes so verbundenen Kongreßpartei? „Werden wir nun Rahul fragen“, sagten die Leute grinsend. Rahul ist der Sohn Rajivs, ein Harvardstudent Anfang Zwanzig. „Oder werden wir jetzt jemand nehmen, der nicht Gandhi heißt?“ Im Gespräch sind jetzt mehrere. Allen voran ein weiterer Überraschungskandidat: der amtierende Premierminister Chandra Shekar, der die Partei verlassen hatte und Chef der Janata Dal (Socialist) Regierung wurde. Er könnte jetzt aber möglicherweie zurückkehren, um den Vorsitz zu übernehmen. Weitere Kandidaten sind P.V. Narasimha Rao, Arjun Singh und N.D. Pewari, alle altgediente Politiker mit Erfahrung als Staatsminister. Von diesen wird dem früheren Premierminister des Staates Uttar Pradesh, N.D.Pewari, in der letzten Zeit ein gespanntes Verhältnis zu Gandhi nachgesagt. Er gilt als Sozialist.

Im Mittelpunkt der politischen Spekulation stand am Freitag der Vorschlag des indischen Präsidenten R.Venkaparaman, eine nationale, aus allen Parteien zusammengesetzte Regierung zu bilden und die auf Juni verschobenen weiteren Wahltage auf unbestimmte Zeit abzusagen, bis wieder eine stabile politische Lage eingetreten sei. Dann erst sollten die Wahlen stattfinden. Für den Fall, daß es wieder keine klaren Mehrheiten gebe, sollte über eine Veränderung der Regierungsform nachgedacht werden. Also weg vom britischen Westminstersystem und hin beispielsweise zur US-amerikanischen Form der Präsidentschaftsregierung.

Diesen Vorschlag hat Venkaparaman jedoch nicht öffentlich gemacht, sondern die Bharatiya Janata Partei erklärte vor Journalisten, der Präsident habe ihr dieses Konzept mitgeteilt. Details über diese nationale Regierung wurden nicht gegeben. Als dieser Vorschlag bekannt wurde, stieß er bei den anderen Parteien auf strikte Ablehnung. Die Janata Dal Partei begründetete dies damit, das die Parteien der National Front/Left Front auf keinen Fall mit der rechtsradikalen BJP in der Regierung sitzen wollten.

„Das darf doch nicht wahr sein“, stellte Mukul Schukal, Journalist bei der Zeitung 'Hindustan Times‘, fest, als diese Nachricht bekannt wurde. „Als gäbe es nicht schon genug Konfusion! Jetzt sollen sie auch noch die Regierungsform ändern“. Der Kongreß und die National Front/Left Front hatten schon die Verschiebung der Wahlen durch das Wahlkomitee auf Mitte Juni als überflüssig verurteilt. Dahinter steht natürlich auch die Überlegung, daß der Kongreß bei den WählerInnen augenblicklich von einer Sympathiewelle profitieren könnte. Je mehr Zeit zwischen der Ermordung Gandhis und den beiden noch fehlenden Wahltagen verstreicht, umso weniger wird der Kongreß auf eine spontane Wählersolidarität bauen können.