Nur an Auszubildenden gibt es keinen Mangel

„Die Arbeitsämter wollen immer mehr Ausbildungsplätze, aber ich weiß einfach nicht, wohin mit den Leuten!“. Doris Lenk ist Ausbildungsleiterin einer überbetrieblichen Bildungseinrichtung im Ostberliner Stadtteil Köpenick. Damit ist sie Chefin einer der Einrichtungen, die die neuen Länder vor dem Lehrstellennotstand retten sollen. Wenn Doris Lenk an den Herbst denkt, wird ihr ganz mulmig zumute. Nicht viel mehr als 30 Ausbildungsplätze wird sie dann dem örtlichen Arbeitsamt melden können, und das weiß schon jetzt nicht mehr, wohin mit schlangestehenden Jugendlichen und deren besorgten Eltern.

Als das Köpenicker Baukombinat im September 1990 zu einer GmbH „mutierte“ und die Auszubildenden kurzerhand auf die Straße setzte, begann Doris Lenk als Direktorin der kombinatseigenen Berufsschule zu wirbeln. Nach mühsamer Suche fand sie im Internationalen Bund für Sozialarbeit (IB), einem der größten westdeutschen Bildungsträger, einen Ansprechpartner. Der IB übernahm die von der Kombinatsauflösung betroffenen Konkurslehrlinge. Finanziert übers Arbeitsamt wird jetzt hier die Ausbildung der angehenden Dachdecker, Maurer, Tischler und Fliesenleger fortgesetzt.

Doppelter Zufall und in der Ex-DDR fast eine Rarität: Auch Räume wurden gefunden, die ehemaligen Verwaltungs- und Lagergebäude der Kommunalen Wohungsverwaltung. Damit ist Doris Lenk den meisten ihrer Kollegen von anderen Einrichtungen, die zum Herbst überbetriebliche Ausbildungsstellen schaffen wollen, zwei Schritte voraus. Denn geeignete Räume sind Mangelware. Rund zwanzig Prozent der früheren Ausbildungsstätten und Berufsschulen weisen „schwerwiegende bauliche Mängel“ auf und sind faktisch „unbrauchbar“, konstatiert das Bundesinstitut für Berufsbildung nach einer ersten Erhebung. Bei anderen Gebäudekomplexen scheitert die Verwendung an ungeklärten Eigentumsverhältnissen. Um im Herbst auch nur eine nennenswerte Zahl von Lehrstellen schaffen zu können, müßten Werkstätten neu eingerichtet werden. Doch selbst wenn die Gelder von der Bundesanstalt für Arbeit bewilligt sind, muß beinahe jede Maschine, jede Werkbank extra aus Westdeutschland nach Zwickau, Neubrandenburg oder Weimar geschafft werden.

Mangelware sind auch qualifizierte Ausbilder, die bereit sind, selbst noch dazuzulernen. Sobald Doris Lenk von einem konkursbedrohten Baubetrieb hört, macht sie sich auf die Socken, um Ausbilder abzuwerben — oft genug jedoch ohne Erfolg. Einem westdeutschen Ausbildungsträger in Mecklenburg liefen mittlerweile fast sämtliche ehemaligen Meister davon. Als von ihnen verlangt wurde, sie sollten erst einmal vormachen, ob sie selber auch eine gerade Mauer ziehen könnten, bevor sie es Jugendlichen beibrächten, reichten die meisten ihre Kündigung ein. Inzwischen holt man sich dort — hoher Arbeitslosigkeit zum Trotz — die Ausbilder aus dem Westen für teures Geld. Auch die Auszubildenden schrecken häufig vor dem gestiegenen Anforderungsdruck zurück. Ein privater Ausbildungsträger an der Ostseeküste, der die „Konkurslehrlinge“ des ehemaligen FDGB- Feriendienstes übernommen hat, verzeichnet unter den Jugendlichen weit überdurchschnittliche Fehlzeiten von rund 40 Prozent. Damit, daß sie „jetzt hart ran“ müßten und darüber hinaus noch von ihren besorgten Eltern richtiggehend zur Ausbildung „geprügelt“ würden, kämen die meisten Jugendlichen wohl nicht klar, vermuten die Ausbilder dort. Doris Lenk beobachtet währenddessen in ihrer Köpenicker Ausbildungswerkstatt Verunsicherung und Überforderung: „deutlich steigende Aggressivität“ und Anzeichen von Vandalismus. Auf dem Betriebsgelände hat sie zum Glück noch einen riesigen alten Betonklotz entdeckt. Den hat sie den Jugendlichen zum Zertrümmern übergeben, und die Lehrlinge erfüllen diesen Arbeitsauftrag mit ungeahntem Eifer.

Angesichts der Lehrstellenknappheit scheint es so, daß alle, die schon jetzt einen Vertrag in der Tasche halten, das große Los gezogen haben. Das jähe Erwachen wird aber wohl erst später kommen. Die großzügigen Ausschüttungen der Arbeitsämter für jeden beliebigen Ausbildungsplatz bergen nämlich auch eine Gefahr: Es kann munter am Bedarf vorbei ausgebildet werden. Den Arbeitsämtern ist Ausbildungsplatz gleich Ausbildungsplatz, egal in welcher Branche. Und für pfiffige Bildungsträger ist es weitaus weniger aufwendig, die weibliche DDR-Jugend zu Hauswirtschafterinnen auszubilden als zu technischen Zeichnerinnen oder Elektrotechnikerinnen. Auch ob die Lehrlinge hinterher einen Arbeitsplatz finden, braucht die überbetrieblichen Bildungsträger im Prinzip nicht zu kümmern. Denn sie sind — anders als mancher Privatbetrieb — zu keiner späteren Übernahme ihrer Auszubildenden verpflichtet.

Angesichts einer verwirrenden Vielzahl von Bildungsangeboten ist es für die ostdeutschen SchulabgängerInnen nur schwer erkennbar, ob sie bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz den richtigen Griff tun. Denn bei der Berufswahl sind sie noch orientierungsloser als ihre westlichen AltersgenossInnen. Viele Berufe im handwerklichen oder im Dienstleistungsbereich kennen sie bisher nur vom Hörensagen. Das schafft Verunsicherung und erhöht nicht gerade die Motivation, auch Durststrecken während der Lehrjahre zu überstehen. Selbst wenn ein Schulabgänger aus Neubrandenburg, Rostock oder Cottbus die Auswahl hätte zwischen verschiedenen Möglichkeiten, wie soll er beurteilen, ob ein Beruf auch Zukunftschancen hat? Zukunftschancen in einer Wirtschaft, von der heute noch nicht einmal die Experten wissen, wie sie sich entwickeln wird?