Frau Martin

Zu Besuch bei einer Art Großfamilie  ■ Von Gabriele Goettle

Die Fassade der Nummer 37 ist grau und morsch. Hier liegen hinter den Vorderhäusern keine lichten Hinterhöfe mit Kastanie und Blumenbeeten, wie in Charlottenburg. Hier wurde in der Jahrhundertwende fürs Proletariat gebaut und fürs Kleingewerbe. Im ersten Hinterhof ist es bereits so düster, daß die Bewohner der unteren Etagen auch tagsüber elektrisches Licht brauchen. Im zweiten Hinterhof ist es noch finsterer. Im dritten liegen hinter den grünglasierten Backsteinfassaden neonbeleuchtete Fabriketagen. Eine Maschinenspinnerei und ein Holzpalettenhersteller teilen sich den linken Seitenflügel. Das Quergebäude steht leer, Tauben fliegen durch die zerbrochenen Fensterscheiben aus und ein. Am rechten Seitenflügel steht mit verblaßten Goldbuchstaben: „Tischlermeister Martin. Fertigung für Haus und Gewerbe.“

An der massiven Holztür hängt ein Namensschild: Elsa Martin. Auf mein Klingeln hin rührt sich nichts. Es nieselt, die Kälte drückt den Rauch aus den Schornsteinen in den Schacht des Hofes herab, aus der Spinnerei dringt ein tiefer Summton. Endlich sind hinter der Tür Schritte zu hören, der Schlüssel dreht sich im Schloß, eine magere alte Frau in zerfetzter großgeblümter Kittelschürze betrachtet mich mißtrauisch. Erst als ich sage, wer mich schickt, heißt sie mich willkommen und bittet mich ins Haus: „Nur immer hier die Treppen rauf, ich geh mal voran.“

Frau Martin steigt vor mir nach oben. Ihre mageren Beine sind in schwarze Strümpfe gehüllt, die oberhalb des Knies von roten Rexgummiringen festgehalten werden. Auf den Treppenstufen liegen Zeitungen ausgebreitet, ein atemberaubender Ammoniakgestank steigt von ihnen auf. Der nächste Treppenabsatz mündet in einen finsteren Gang. Frau Martin deutet ins Dunkel und öffnet eine Tür: „Da sehen Sie, wie wir leben. Wie im Palast. Hier überall sind die Herren unterwegs...“ Der große Fabriksaal ist leer und dämmrig. Auch hier steigt ein scharfer Geruch in die Nase.

Weiter geht es. Wendeltreppenartig zieht sich der Aufgang nach oben. Durch ein zerbrochenes Fenster weht frische Luft herein. Ich trete in irgend etwas Weiches, Schmieriges, Zeitungspapier bleibt an meinem Schuh hängen. Scharrend folge ich Frau Martin, die schon auf mich wartet. „Hier sind wir!“ ruft sie aufmunternd. „Gehen wir erst mal in die Küche, nachher zeige ich Ihnen dann den Boden, wo die wildesten Schlingel sich herumtreiben.“

Sie öffnet die Tür und bittet mich in einen großen, hell erleuchteten Raum. Weiße Kugellampen hängen von der Decke. Als ich eintrete, richten sich mindestens zwanzig Augenpaare auf mich. Überall lagern Katzen, auf dem Tisch, den Stühlen, der Fensterbank, dem Boden, in der Geschirrablage, auf dem Küchenschrank. „Da sehen Sie gleich alle meine Lieben versammelt“, erklärt Frau Martin und deutet in die Runde, „hier haben wir es warm, wir wollen ja nicht frieren.“ Es riecht nach Sellerie und Liebstöckel, auf dem weißen alten Kohleherd mit Wasserschiff steht ein gewaltiger Topf, in dem offenbar eine Suppe brodelt.

Frau Martin macht ein paar energische Handbewegungen, mit denen die Katzen von Tisch und Stühlen vertrieben werden sollen. Doch kaum haben wir uns gesetzt, springen wieder vier dicke Katzen auf den Tisch und lassen sich gemächlich vor den Augen der Herrin nieder. Frau Martin streichelt sie zerstreut und glättet mit der freien Hand die langen Risse in ihrer Kittelschürze: „Das würden Sie nicht glauben, was meine Lieben manchmal für eine Kraft entwickeln“, erklärt sie und lächelt nachsichtig. „Was hatten Sie sich denn so vorgestellt?“ fragt sie dann unvermittelt und in leicht verändertem Tonfall.

„Na, vielleicht eher eine etwas kleinere Katze“, sage ich vorsichtig, „und, wenn es möglich ist, sollte sie stubenrein sein.“ Das Mißfallen von Frau Martin wächst zusehends.

„Kleine haben wir gar nicht im Moment. Und das gibt's sowieso nicht, daß einer mir hier in die Stube macht! Das Geschäft verrichtet man draußen. So ist es hier der Brauch bei uns! Aber ich hab da vielleicht was für Sie, mal sehen, einen Moment Geduld.“

Sie steht auf, schaut kurz in den Nebenraum und verschwindet dann draußen im Treppenhaus. Bald höre ich sie weit entfernt etwas rufen. Vom Herd klingt leise das Klappern des Deckels auf dem Suppentopf, sonst herrscht Stille. Auf dem schmalen Fensterbrett liegen Katzen, in allen Schattierungen zwischen weiß, grau, schwarz und rot. Die dickeren unter ihnen hängen mit Bauch und Schenkeln seitlich herunter, scheinen es aber dennoch bequem zu haben. Durch die leicht beschlagenen Fensterscheiben kann man in der Fabriketage gegenüber Frauen herumgehen sehen. Sie hantieren an großen Maschinen, tragen rosafarbene Kittel und weiße Kopftücher. Die Katzen schauen teilnahmslos auf die schwere Arbeit, dabei fallen ihnen die Augen zu. Auch von mir nimmt man kaum Notiz. Mein Stuhl ist längst wieder besetzt. Auf der Anrichte steht ein Abreißkalender mit dem Bild einer Katzenmutter samt Jungen. Davor lagert ein roter Kater.

Frau Martin kommt herein und trägt eine getigerte Katze auf dem Arm. „Endlich hab ich es überreden können, das Schätzchen“, sagt sie ein wenig atemlos und hält das Tier am Nackenfell fest. Am Arm hat sie mehrere Kratzer, auf denen das Blut gerade einzutrocknen beginnt.

„Sie kratzt wohl?“ frage ich.

„Er. Er kratzt wohl! Ja, na ja, normalerweise kratzt er nicht, unser Paul, aber ich mußte ihn unter der Truhe hervorziehen, ganz oben..., erst mal mache ich uns jetzt einen Tee. Nehmen Sie ihn mal und machen Sie sich ein bißchen bekannt mit ihm!“

Während sie einen verbeulten Aluminiumtopf mit Wasser füllt und den Tauchsieder hineinhängt, streichle ich den widespenstigen Kater ein Weilchen, aber schon ist er mir entkommen und im Nebenzimmer verschwunden. Frau Martin winkt ab: „Der braucht so seine Zeit, unser Paul, er ist halt eigensinnig.“ Dann stellt sie zwei verklebte Becher mit roten Herzen auf den Tisch, bläst in die Zuckerdose, legt zwei Teebeutel bereit und setzt sich fast auf eine schwarze Katze, die aber im allerletzten Moment fliehen kann.

„Ich muß das bei ihr immer so machen, sonst steht sie nicht auf. Sehn Sie, ich bin nun schon über siebzig, habe nur eine kleine Rente und vierundfünfzig Mäuler zu stopfen. Ich kann Ihnen sagen, das ist nicht leicht. Vorige Woche hat mir jemand drei gebracht und ich sage mir halt, draußen werden sie überfahren und verhungern. Ich hab aber an sich immer genug zum Leben für uns alle, die Frau Schmitz vom Vorderhaus gibt auch immer noch was zu von ihrer Behindertenrente.“

Das Wasser kocht und der Aluminiumtopf mit dem Tauchsieder schwankt bedrohlich hin und her, daneben liegt ungerührt eine Katze. Ich sehe es schon vor mir, wie sie verbrüht wird und in panischer Flucht davon stürzt... Frau Martin erzählt weiter: „Wissen Sie, man ist oft ungerecht. Die Frau Schmitz zum Beispiel bekommt immer nachgerufen von den Kindern. Gut, sie ist nicht ganz richtig im Kopf, aber ich sag mir immer, das Herz zählt! So ist es auch bei uns hier. Es gibt gute und schlechte Katzen, hab ich nicht recht?“

Ich deute auf den Tauchsieder, Frau Martin nickt und erhebt sich, hängt die Teebeutel in die Becher und sagt: „Wir gehn rüber in die Stube, da sitzt schon Ihr Paule und wartet“, dann reißt sie den Stecker aus der Wand und nur lange Routine verhindert, daß der Topf im allerletzen Moment doch noch umkippt.

Wenig später sitzen wir im Schlafzimmer an einem runden Couchtisch mit Glasplatte, unter der das Muster eines Flechtwerkes zu sehen ist. Das Bett an der Wand ist die übriggebliebene Hälfte eines Ehebettes, der Wulst am Kopfteil ist durchgesägt. Im Licht der Stehlampe sind einige Katzen zu sehen, die unter dem Bett sitzen. An der Wand hängt eine Heidelandschaft in Öl. Daneben Katzenbilder und Fotos.

„Drei Tüten jede Woche verdrücken sie.“

„Drei Tüten?“ frage ich.

„Brot, altes Brot. Der Bäcker gibt's mir. Na, und dazu noch die Milch, das Hühnerklein, die Fischköpfe... das ist ne ganze Menge. Aber wissen Sie, mein Mann, als der noch lebte, dem konnte es auch immer nicht genug sein. Was hab ich da reingefüttert, in diesen Mann, und nichts zu sehen! So geht das immer weiter. Eigentlich ist das ja jetzt meine Familie hier, die Tiere. Fritz und Hermann, Paule, Grete, Onkel Karl, die freche Lilo, alle haben sie ihre Eigenart, das glaubt man vielleicht nicht, aber keins ist wie das ander. Drum können Sie vielleicht auch verstehen, daß man nicht ohne weiteres eins hergibt, da fehlt ja dann was, na sehnse! Möchten Sie vielleicht ein bißchen Götterspeise, Waldmeister?“

Ich wehre dankend ab und als Paule gerade an ihr vorbeigeschlendert ist, packt sie ihn geschickt und ruft: „Schnell, geben Sie Ihren Katzenkorb her, sonst isser wieder weg!“

Unter heftiger Gegenwehr läßt er sich hineinstecken und dann ein stetiges tiefes Knurren hören. Ich habe ein ungutes Gefühl. Frau Martin wehrt das Geld ab, das ich ihr geben möchte. Erst beim letzten Versuch und beschwichtigt durch das Argument, es sei fürs Futter, nimmt sie es entgegen: „Man will sich ja nicht bereichern an den Tieren.“ Unter guten Wünschen und mit Ratschlägen versorgt werde ich verabschiedet, trage den grollenden Korb davon durch die Dunkelheit.

Die schlechten Vorahnungen trogen nicht. Paule suchte das Weite. Einige Wochen später lag an unserer Straßenecke ein plattgefahrenes Fell. Es verschwand allmählich, fortgetragen in den Winterprofilen der Autoreifen.