Was war neu an Neumünster?

Es sah so aus, als seien die Grünen auf ihrem Parteitag in Neumünster in die 80er Jahre zurückgekehrt. Dennoch ist der inhaltliche Konsens größer denn je. Eine Zwischenbilanz vor dem nächsten Parteitag in Köln  ■ VON JOACHIM RASCHKE

Es sah so aus, als seien die Grünen in die 80er Jahre zurückgekehrt. Parteitagstumulte hatte es länger nicht gegeben, die Trillerpfeifen wurden wieder hervorgeholt, eine Wasserpistole neu angeschafft. Es gab den Kampf ums Mikrophon wie zu den Zeiten, als die Kinderkommune aus Nürnberg die Nerven der Grünen strapazierte und ihre Sozialarbeiter- Geduld auf harte Proben stellte. Als Neuanfang war die Vorstellung annonciert worden — was gespielt wurde, war ein anderes Stück. Zwar gab es schon die neuen Mehrheiten eines linken und rechten Zentrismus, aber die Kinderkommune um Jutta Dithfurth nutzt die Offenheit und die öffentliche Aufmerksamkeit der Grünen, um ihren Abschied zu inszenieren. Die unkonventionellen Aktionsformen der neuen Bewegungen auf die Grünen selbst angewendet, lassen auch die schlecht aussehen.

Die Grünen sind ja das besondere Projekt, bei dem das politische Lernen einer Generation sich öffentlich abspielt. Was bei anderen Parteien intern auch durch Auseinandersetzung zwischen den Generationen an Realitätskontrolle gelernt wird, geschieht in der Generationspartei Grüne ohne direkten Widerpart der Älteren und im vollen Rampenlicht der Öffentlichkeit. Auch das erklärt die Ermüdungserscheinungen der Öffentlichkeit. Nun mußten die FernsehzuschauerInnen also auch noch diejenigen mit ansehen, die nichts gelernt haben, sondern — wie zum Beispiel Jutta Dithfurth — fast wortidentisch das gleiche sagen wie vor zehn Jahren und darauf auch noch stolz sind. Der Anteil dieses bei den Grünen noch verbliebenen Fundamentalismus lag auf dem Parteitag bei etwa 5 Prozent, in der Berichterstattung der Massenmedien schätzungsweise bei 40 Prozent. Diese Gruppe kämpfte nicht mehr um Mehrheiten, sondern um den Aufbau von Sperrminoritäten, mit denen sich grundlegende Strukturänderungen, die der Zweidrittelmehrheit bedürfen, verhindern lassen. Und sie folgt dem erklärten Programmgrundsatz der bereits außerhalb organisierten Radikalen Linken, dem Prinzip der „schroffen Negationen“.

Gemessen an den Erwartungen, an den Notwendigkeiten und auch an den Chancen, die in einer Krisensituation liegen, ist der Parteitag gescheitert. Gemessen am Status quo ante gab es aber durchaus Fortschritte. Der inhaltliche Konsens ist größer denn je in den letzten Jahren, Entwicklungen in der Strukturdebatte sind unverkennbar. Mit dem Wegfall der groben Polarisierungsfronten sind die Grünen allerdings nicht einfacher geworden, ihre Entzifferung bedarf des Know-how der Insider der Green-Watchers.

Der neue Konsens

Etwa 90 Prozent der Delegierten konnten einer Positionsbestimmung zustimmen, die aus zwei Anträgen zusammengefügt war, welche je für sich eine knappe Mehrheit des Parteitags gefunden hatten. Autoren der Papiere waren zwei intellektuelle Führungsfiguren der Realos und des Linken Forums, Fritz Kuhn und Ludger Volmer. Beide Papiere lagen inhaltlich so nahe beieinander, daß kein fauler Kompromiß, sondern die Umrisse eine grünen Konsenses enstanden. Dazu gehören u.a.:

(a)Die Grünen verstehen sich als „ökologische Reformpartei“. Reformpolitik muß „tiefgreifend“ sein und sie „ist keine konfliktarme oder -scheue Politik, weil sie die Reformen gegen starke wirtschaftliche, bürokratische und ideologische Interessen durchsetzen muß.“

(b)Problemorientierung geht vor Weltbildfixierung. „Wir wollen unsere praktische Politik nicht aus vorgefertigten Weltbildern ableiten, sondern von den vorfindbaren Problemen ausgehend, radikal die notwendigen und angemessenen Lösungen suchen; dabei kann das Überschreiten heutiger 'Systemgrenzen‘ weder ein Ziel an sich noch ein Tabu sein.“ Damit ist ein empirischer und pragmatischer Vorsatz gefaßt.

(c)Die Grünen sind eine linksökologische Partei, die sich „gemessen an der herkömmichen Parteienlandschaft im linken Spektrum bewegt.“ Sie ist aber keine „Linkspartei im traditionellen Sinne“, da sie deren „Staatsfixiertheit, Wachstumsdenken, Fortschrittsglauben, Verachtung dezentraler Strukturen“ nicht teilt und „den Dialog und die Auseinandersetzung auch über die traditionellen Lagergrenzen hinweg führen“ will. „Die ökologische Frage ist in erster Linie eine Gattungsfrage als Überlebensfrage aller Menschen.“ Solcher Zurechnung zum linken Spektrum der bundesdeutschen Wählerschaft und der ökologischen Gesamtverpflichtung entspricht die Präferenz für „rot-grüne Koalitionen, wo die Mehrheitsverhältnisse es zulassen.“

(d)Die Grünen wollen eine „Öffnung ihrer Partei und ihrer Politik zur Gesellschaft hin“. In der parlamentarischen wie der außerparlamentarischen Arbeit soll versucht werden, „ein möglichst komplexes Netz punktueller inhaltlicher Bündnisse aufzubauen“.

(e)Basisdemokratie wird durch das Programm einer „Demokratisierung der Grünen selbst“ abgelöst. „Die anderen Parteien sind nicht das Vorbild dieser Reform. Demokratisierung, das heißt nicht Anpassung.“

(f)Die Grünen bestimmen ihre Politik im Ergänzungs- und Spannungsverhältnis ihrer vier Grundwerte: „Ökologisierung, Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit“; „Frauenpolitik im feministischen Sinne“ hat inzwischen die Geltung eines weiteren Grundwertes erlangt. Jeder Grundwert erhält durch die Wechselbeziehungen und Spannungsverhältnisse zu den anderen Grundwerten einen wesentlichen Teil seiner Bedeutung, Reichweite und Grenzen. Die Ausweitung der Demokratie auf Entscheidungen über „technologische und ökonomische Entwicklungen großer Reichweite“, Ökologiepolitik als Gesellschaftspolitik (Politische Ökologie), Absage an pauschales Wachstum, verbunden mit sozialer Sicherung bzw. Gerechtigkeit „durch Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums, in der Regel von oben nach unten, und durch eine gleichermaßen ökologische, soziale und demokratische Neubestimmung des Wirtschaftens und ... einen Umbau der Struktur des Sozialstaates“ — dies sind Beispiele für Wechselbeziehung und Verknüpfung der Grundwerte. Zwischen den fünf Grundwerten besteht prinzipielle Gleichwertigkeit in den Sinne, daß grüne Politik nicht zustandekommt, wenn einer dieser Werte nicht berücksichtigt wird. In diesem Rahmen kommt der Ökologie eine besondere Bedeutung zu, wodurch sich die globalen Kennzeichnungen als „ökologische Reformpartei“ und „ökologischer Humanismus“ und nicht zuletzt die Selbstbezeichnung als „Grüne“ rechtfertigen.

Abschied vom Radikalfeminismus

Einen weiteren Schritt hat der Parteitag in der Frage des Feminismus getan. Mit starker Mehrheit hat er die Position des Radikalfeminismus verworfen. Marieluise Beck-Oberdorf und Elke Kiltz, die seit Jahren konkret an einer empirisch und pluralistisch orientierten Frauenpolitik arbeiten, setzten sich mit einem Antrag durch, der u.a. erklärte: „Unter Emanzipation der Geschlechter verstehen wir ... nicht die Angleichung der Frauen an die traditionell männliche Lebensbiographie, die einseitig auf die Erwerbsarbeit ausgerichtet ist.“

Mit diesen Positionen, die in einem neuen Grundsatzprogramm weiter entwickelt werden sollen, verabschieden sich die Grünen definitiv von allen Varianten eines Fundamentalismus, die bei ihnen Bedeutung hatten. Dazu gehört eine primär sozialistisch orientierte Radikale Linke ebenso wie die radikalökologische Variante, die Ökologie mit einem quasi revolutionären Antikapitalismus identifizierte, aber auch ein Radikalfeminismus, der in der Gleichheit von Arbeits- und Reproduktionsrollen ebenso sein Signum hatte wie in der Bekämpfung eines „Heterozentrismus, dessen Norm der Heterosexualität und ihre Institutionen (Ehe, Zwangsmutterschaft, Prostitution usw.) einerseits Mädchen und Frauen Männern zuordnet, sie entsprechend zurichtet und diszipliniert und andererseits Männern den Zugriff auf Frauen und die Verfügung über 'ihre‘ Frau ermöglicht“ (wörtlich und für sich sprechend im Antragstext der Gruppe).

Dieser breite Konsens ist der große Kompromiß zwischen den zentristischen Teilen von Realo und Linken Forum. An den Rändern beider Strömungen gibt es Tendenzen bzw. Strömungen, die viele Positionen des Konsens teilen, daneben aber profilierte Eigenprojekte verfolgen. Die gegen die Linksverortung gerichtete Forderung nach einer ökologischen Bürgerrechtspartei bei Teilen des Aufbruchs und bei den Ökolibertären gehört dazu ebenso wie dezidiert sozialistische Vorstellungen im Rahmen des Linken Forums. Darüberhinaus bietet die Partei eine Plattform für vielfältige ideelle Positionen, von den Christen über Anthroposophen und Spirituelle bis zu wertkonservativen und vielen anderen Ansätzen bzw. Einzelprojekten. Mit der Präzisierung des Konsens könnte auch eine Forderung der Realos greifen, die in einer Kampfabstimmung zum Grundsatzpapier „die Wiederherstellung eines eindeutigen Mehrheitsprinzips“ durchgesetzt haben. „Eine Mehrheit muß, solange sie Mehrheit ist, die Politik nach außen bestimmen und die Minderheit (oder einzelne ihrer VertreterInnen) darf nicht auftreten, als wäre sie die Mehrheit. Das geht natürlich nur, wenn die Partei über einen klaren Grundkonsens verfügt, der der Minderheit ihre Rolle erträglich und attraktiv genug erschienen läßt. Und es geht natürlich nur, wenn nach innen die Diskussionsprozesse so offen und fair organisiert sind, daß die Minderheit tatsächliche Chancen hat, eines Tages Mehrheit zu werden.“

Nachdem nun auch in der Grünen Partei ein Grundkonsens abgeklärt ist, käme alles auf die Organisierung produktiver Diskurse an. Der Realo-Fundi-Konflikt war langweilig, jedenfalls unter konzeptionellen Gesichtspunkten. Wiederholt wurden die Themen und im wesentlichen auch die Positionen der Zweiten Internationale: Staat, Parlamentarismus, Reform und ... (das als Revolution und Bruch gemeinte, aber nicht mehr so klar Ausgesprochene), Gewalt, Suche nach dem (irgendwie) revolutionären Subjekt. Die Debatte reduzierte sich auf die Radikalismus-Dimension, die eigentlich interessanten Fragen wurden zugeschüttet. So haben die Grünen auch den Anschluß an kritische Diskurse und Wissenschaftsentwicklungen verpaßt. Neben einem Neuansatz des Diskurses über Geschlechterpolitik wären zum Beispiel solche über Politische Ökologie und Soziologie überfällig. Durch die plakative Besetzung eines „ökologischen Humanismus“ sind ja noch nicht alle Formen eines bei den Grünen kursierenden ökologischen Naturalismus überwunden; die Klärung nicht nur von Maßnahmen, sondern der regulativen Idee einer Ökologiepolitik der Grünen wäre ebenso hilfreich wie die Vertiefung der besonders konfliktreichen ökologischen Umbauprogrammteile (wie z.B. Chemiepolitik). Die politische Soziologie der Grünen selbst, der korrespondierenden Bewegungen, Initiativen, Verbände, ihrer Wählerpotentiale, der in den Grünen ausgedrückten Lebensstile etc. ist den Grünen meist nicht bekannt. Eine Öffnung der Grünen sollte sich auch auf die kritisch-empirischen Wissenschaften jenseits ressortspezifischer Politikberatung beziehen.

Strukturreform

Den JournalistInnen erschien Neumünster als Debakel. Sie hatten die Strukturdebatte im Auge, die den größten Teil des Parteitags in Beschlag nahm und doch nur magere Ergebnisse hervorbrachte. Die eben analysierte Erklärung von Neumünster dagegen, die doch eine Reihe konstruktiver Elemente enthält, beschäftigte die Delegierten am ersten Abend, verschwand dann in einer Kommission und erreichte das Plenum erst kurz vor Abschluß der Tagung, als der negative Eindruck schon feststand und viele Berichte schon geschrieben waren.

Es war nicht eine verrückte Idee der Grünen, die Ödnis einer Statutendebatte in den Mittelpunkt ihres Parteitags zu rücken. Ihre bassidemokratischen Prinzipien zwangen sie dazu. Sie verbieten den Grünen, eine Antragskommission einzusetzen, die in den Wochen zuvor und in Rücksprache bzw. Diskussion mit den vielen AntragstellerInnen übersichtliche Alternativen erarbeitet. So kommt es zu der allseits schwer erträglichen Situation, daß in einer Versammungsdemokratie mit 660 TeilnehmerInnen, darunter eine an Störungen interessierte kleine Minderheit, komplizierte Antragsmaterien diskutiert, sortiert, gebündelt und entschieden werden sollen. Es kann nicht ausbleiben, daß das Präsidium auch mal manipuliert, um weiterzukommen, daß Ad-hoc-Minikommissionen eine Macht gewinnen, die ein gewählte und pluralistisch kontrollierte Antragskommission nie hätte, daß die Öffentlichkeit den Eindruck gewinnt, die Grünen drückten sich vor inhaltlichen Debatten und hielten sich an Paragraphen fest. Wenn dann noch der Ertrag dieser Exerzitien minimal ist, wird nicht vom Elend der Basisdemokratie, sondern von Scheitern der Grünen gesprochen — was allerdings miteinander zu tun hat.

Was wurde erreicht? Die eindeutige Stärkung des föderativen Prinzips, eine begrenzte Effektivierung im Rahmen einer „kleinen Vorstandsreform“ und ein wichtiger Beschluß zu einer Urabstimmungsregelung — der allerdings nachträglich angefochten wurde.

Oft genug seit 1987 haben sich die Landesvorstände der Grünen informell zusammengesetzt, um zu retten, was bei der Bundespartei noch zu retten ist. Jetzt haben sie sich mit der Schaffung des Länderrates diese tragende Rolle ratifizieren lassen und gleichzeitig mit diesem Gremium vorgebaut, daß die Bundesebene der Arbeit der Landesverbände zu sehr schaden kann. Gleichzeitig ist dieses „oberste beschlußfassende Organ zwischen den Bundesversammlungen“ ein Ort überfälliger Koordination und Vernetzung. Hier kommen Mitglieder der Landesvorstände und -versammlungen mit Abgeordneten der Landtagsfraktionen, des Bundestages, des Europaparlaments und mit den Mitgliedern des Bundesvorstandes zusammen. Amtszeitbegrenzung und Unvereinbarkeitsregel sind hier aufgehoben. Das Übergewicht der repräsentativen LandesvertreterInnen über die Mitglieder des Bundesvorstandes ist eindeutig. Allerdings: Das Gremium umfaßt etwa 50 Mitglieder und tagt nur viermal jährlich. Die alltägliche politische Definitionsmacht ist nicht seine Sache und das Papier, auf das Richtlinienbeschlüsse gedruckt werden, ist geduldig. Ein Bundesvorstand, der nicht viermal im Jahr desavouriert werden will, wird sich aber an den Mehrheiten dieses Gremiums orientieren. Es wird einen Druck auf große Koalitionen in der Partei ausüben.

Zu den potentiell folgenreicheren Änderungen gehört die lange Zeit strittige Fassung der Urabstimmung, die vom Statut von vorneherein vorgesehen war. Da sie bisher auf Landesebene immer gemäßigte Ergebnisse erbracht hat, ist sie eine latente Drohung gegenüber einer radikalisierten Funktionärsdemokratie. Hoher Zeit- und Kostenaufwand bedeutet an sich, das Instrument nur bei wenigen Themen anzuwenden. Aber es wurde eine sehr niedrige Antragsschwelle beschlossen und ein Ergebnis wird auch bei niedriger Beteiligung gültig sein. Es ist nicht sicher, daß sich daraus eine vernünftige Praxis entwickeln wird.

Jedenfalls löst die Urabstimmung nicht die Probleme der Grünen. Sie brauchen effiziente Strukturen der „arbeitenden Partei“, die von Tag zu Tag interveniert. Die Korrekturmechanismen (Länderrat und Urabstimmung) sind schon ganz gut, aber die operativen Strukturen sind noch schwach. Das gilt vor allem für die bislang sehr begrenzte Reform des Bundesvorstandes. Verkleinerung, Aufhebung der Amtszeitbegrenzung und Einführung eines politischen Geschäftsführers gelten da als die Fortschritte. Die Verringerung von drei auf zwei SprecherInnen ist ja schon an sich nicht revolutionär, sie kann — das ist vorausgesagt worden — in verschiedenen Varianten ungünstiger als die Dreier-Lösung sein. Zum Beispiel wenn zwei Personen an die Spitze kommen, die — wie befürchtet — die Partei polarisieren, oder — wie eingetreten — aus derselben Strömung kommen. Auch das Zweier-Modell ist nicht geeignet, die enorme Pluralität der Grünen angemessen abzubilden. Aus pluralistischen Gründen werden die Grünen sich doch noch mit einer autoritären Lösung befassen müssen: der Wahl eines Vorsitzenden (männlich oder weiblich) mit drei bis fünf StellvertreterInnen. So ließe sich die Pluralität repräsentieren und könnten gleichzeitig Brücken gebaut werden zu unterschiedlichen Gruppen, die für die Grünen relevant sind.

Der große Streitpunkt des Parteitags entstand an der Frage einer Unvereinbarkeit von Amt und Mandat. Dabei wäre es nur um einen Einstieg in den Ausstieg von diesem Dogma gegangen. Eine deutliche Mehrheit des Parteitags weigerte sich, Abgeordnete auf der Ebene des geschäftsführenden Bundesvorstandes zuzulassen — dort also wo die alltägliche Intervention auch in wechselseitiger Information und Abstimmung von Partei und Fraktion zustande gebracht werden muß. Es gab deutliche Mehrheiten für die Aufhebung von Amt und Mandat auf der Ebene der BeisitzerInnen, aber es war die Stunde der Sperrminorität: zweimal verweigerte sie die erforderliche Zustimmung, am Ende fehlten neun Stimmen. Es war eine Negativkoalition aus drei verschiedenen Spektren der Partei: Radikale Linke, der die ganze Strukturreform nicht paßte, Linkes Forum, das einen Punkt gesucht hatte, seine Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen, und Teilen der Ost-Grünen, die mit Ämter- und Mandatshäufung in der alten DDR die schlechtesten Erinnerungen verbanden. Vor allem beim Linken Forum siegte die Gruppendynamik über die gerade einsetzende Dynamik einer Strukturreform; seine AnhängerInnen verweigerten sich wider besseres Wissen, hatten sie selbst doch schon zuvor in NRW und beim Beschluß über den Länderrat das Tabu gebrochen. Nun müssen die Mitglieder, die keine Gruppenidentität zu verteidigen haben, in einer Urabstimmung den notwendigen Schritt tun. (Es wird übrigens Zeit, bei den Grünen zwischen verschiedenen Identitäten zu unterscheiden; in Neumünster ging es um eine Gruppenerhaltungsidentität.)

Personen und Strukturen

Das Potential für Strukturreform auf der Bundesebene ist größer geworden. Bedenkt man, daß dort in den zehn Jahren zuvor nur marginale Änderungen möglich waren (das Antragsrecht auf Parteitagen und die Bezahlung von Vorstandsmitgliedern betreffend), ist jetzt Bewegung in die Sache gekommen. Der Wandel zeigt sich auch beim neuen Phänomen eines Auseinanderfallens von Struktur- und Personalmehrheit. Mit Christine Weiske und Ludger Volmer wurden zwei „Linke“ in die Sprecherposition gewählt. Dies ist vereinbar mit den „realistisch“ orientierten Strukturmehrheiten. Wie läßt sich das erklären?

Im ersten Wahlgang erhielten Hubert Kleinert für die Realos 214, Ludger Vollmer für das Linke Forum 213 Stimmen — größer war die „Stammwählerschaft“ beider Großströmungen nicht. Addiert man die Stimmen für das gemäßigtere Lager, erreichte es bei der Sprecherinnenwahl rund 300 Stimmen (Vollmer plus Kelly), bei der Sprecherwahl 290 Stimmen (Kleinert). Das linkere Lager erreichte bei Weiske rund 340, bei Volmer etwa 330 Stimmen. Diese relativ stabilen Relationen verdecken Bewegungen und Motive, die dabei eine Rolle spielen. Vollmer hat den weitaus größten Teil derer auf sich gezogen, die im ersten Wahlgang Lippelt gewählt hatten (164 Stimmen). Lippelt, lange Jahre Grenzgänger zwischen Realos und Aufbruch, hatte vor dem Parteitag eine zwischen den Flügeln vermittelnde Position aufgebaut. Er hat wahrscheinlich — neben niedersächsischen Stimmen — vor allem Delegierte angezogen, die ein besonderes Interesse an innerparteilicher Vermittlung und Konsenspolitik hatten. Diese, und nicht „linke“ Stimmen sind dann zu Volmer weitergewandert. So gesehen hat Volmer kein Mandat für einen scharfen Linkskurs, sondern für eine innerparteiliche Integrationspolitik. Neumünster signalisiert den Bedarf an Integration, die Chancen des Zentrismus. Gesiegt hat erneut ein linker Zentrismus, der die Lücke füllt, die durch die Abwanderung der Aufbruch-Gruppe in das Realo-Lager seit Frühjahr 1990 entstanden ist. Antje Vollmer z.B. war kein personelles Angebot einer gleichzeitig externen Profilierung und internen Befriedung. Die Delegierten mußten sich entscheiden: Sie waren binnenorientiert und haben für innerparteiliche Integration votiert.

Nicht die Strömungen sind das Problem der Grünen, sondern die vernünftige Steuerung der Gruppenkonkurrenz. Noch immer dominieren die Neigungen zu Ausscheidungskämpfen, zur Feststellung von Siegern und Besiegten, zu kollektiver Identitätspolitik. Verhandlungsdemokratie, unter Einbeziehung der relevanten und nicht zuletzt der den Konsens tragenden Strömungen, fällt auf allen Seiten schwer.

Die Realos laufen seit zweieinhalb Jahren, seit der Abwahl der Radikalen Linken aus dem Vorstand in Karlsruhe (Dezember 1988), dem Versuch hinterher, in der Partei eine gemäßigte Führung durchzusetzen. Bisher vergeblich. Trotz z.T. hoher eigener Mobilisierungsraten scheitern sie regelmäßig an einer strömungspolitisch ungebundenen Gruppe von Delegierten. Hier gibt es unterschiedliche Motive und Argumente: Lange Zeit sollte der Parteivorstand ein Gegengewicht zur realo-dominierten Fraktion sein, Hegemonial- oder Ausgrenzungsabsichten stießen auf Widerspruch, Konsens und Pluralität, aber auch symbolische Distanz zum herrschenden Politikbetrieb waren hier gefragt. Eine untereinander unverbundene Gruppe, auf die das Diktum „im Zweifelsfalle links“ ganz gut zutrifft. Eine Zeitlang ließ sich diese Tendenz durch die Aufbruchgruppe repräsentieren; nachdem diese die innerparteiliche Dominanzstrategie schärfer verfolgt als viele Realos, haben sich Teile der gemäßigten Linken am erfolgreichsten auf diese Mentalität eingestellt, symbolisieren sie am ehesten den hier gefragten Anpassungsvorbehalt. Aber auch das Linke Forum ist bei seinen Aktiven noch weit weg vom Verständnis einer Verhandlungsdemokratie. Daß sie eine Kampfabstimmung wollten, wo die inhaltlichen Differenzen und die Stimmenanteile marginal waren, daß sie verzweifelt nach einem Punkt der Unterscheidung suchten, um ihn dann ausgerechnet und wider besseres Wissen bei der Unvereinbarkeit von Amt und Mandat suchen, daß L. Volmer, um gewählt zu werden, eine Kandidatenrede halten mußte, die sich fast ausschließlich an die Linke wandte, die ihm wegen seiner Konsenspolitik wegzulaufen drohte, das alles zeigt, daß hier die Selbstsicherheit fehlt, die zur Verhandlungsdemokratie ebenso wichtig ist wie der Verzicht auf Überwältigungsstrategien.

Immer noch mit den Problemen ihrer eigenen Strukturierung beschäftigt, ist das Verhältnis zwischen West- Grünen, Ost-Grünen und Bürgerbewegungen außerordentlich schwierig. Die Ost-Grünen stellen keine Einheit dar, sie sind nicht — wie häufig behauptet wurde — eine Hilfstruppe für Realo und Aufbruch, sie verweigern sich allen Formen der Instrumentalisierung und haben Aversionen gegen zugespitzte Konflikte unter — mehr oder weniger — Gleichgesinnten. Wahrscheinlich sind es nicht in erster Linie ideologische Fragen, die zwischen Ost und West trennen. Eher sind es unterschiedliche Erfahrungen, die weder von West nach Ost, noch in umgekehrter Richtung generalisierbar sind; wirken Differenzen im Verhaltensstil, der im Westen eher konflikthaft und durch Aggressivitäten gekennzeichnet ist; stellen sich für alle massiven Probleme kognitiver Komplexität und Orientierung in und zwischen den drei politischen Teilgruppen, die alle gleich schwer zu entziffern sind; verkennen sich die Akteure fast zwangsläufig in der wechselseitigen Zuschreibung von Eigenschaften, die in beiden Richtungen an der Heterogenität der Formationen scheitern müssen (wie sollen die Ostdeutschen z.B. das Verhalten der Ditfurth-Gruppe als unzeitgemäße Inszenierung eines Abschieds und nicht als Normalität westdeutscher Grüner erkennen?).

Wenn jetzt, insbesondere aus den Bürgerbewegungen, zu hören ist, die Grünen hätten sich für ein Bündnis selbst disqualifiziert, wäre doch auch — jenseits westlicher Selbstüberheblichkeit — kritisch nach dem angebotenen Innovationspotential zu fragen. Hinsichtlich einer generellen Überwindung des Links-Rechts-Schemas und der Vorbehalte gegenüber der Parteiform hat der grüne Parteitag eine deutliche Antwort gegeben. Sie spiegeln zwölf Jahre Erfahrung der West-Grünen und können sich nicht decken mit den Erfahrungen aus einer spezifischen, frühen, interessenübergreifenden Bewegungsphase im Kampf gegen den totalitären Sozialismus. Die Generalisierbarkeit des unvermeidbaren Partikularismus von Erfahrungen stößt in beiden Richtungen auf Grenzen, deren Kommunizierbarkeit wäre für alle Beteiligten ein realistisches Ziel.

Auf die Dauer werden die Grünen um eine grundlegendere Reform ihrer Parteitagsstrukturen nicht herumkommen. Sonst behindern sie sich auch in Zukunft an ihrer immer noch vorhandenen Fähigkeit, positive Signale in die Gesellschaft zu senden.

Joachim Raschke, Politologie-Professor an der Uni Hamburg, ist Autor des vieldiskutierten Buches „Krise der Grünen. Bilanz und Neubeginn“, Marburg 1991. Der vorliegende Beitrag erscheint ebenfalls im Juni-Heft der 'Blätter für deutsche und internationale Politik‘.