: Die Erforschung der Deutschen Leberwurststulle
Den ErforscherInnen der DDR ist das Objekt ihrer Begierde ausgegangen/ Begräbnis und letztes Geleit auf der XXIV. DDR-Forscher-Tagung in Röttgen ■ Von Stefan Pannen
Freitagabends bin ich immer unten an der Ecke „Bei Robert und Erwin“ und stehe am Tresen mit Willi. So nach der zweiten Molle, dem zweiten Korn, ist Willi soweit. „Ick' ha' schon lange jesagt, det die Dädäerr den Bach runterjeht, seit fünf Jahrn minstens, gloob' mir.“ Ich nicke dann, bestelle noch 'ne Molle, noch 'en Korn, Willi auch, dazu eine Leberwurststulle, und wenn er die Hälfte gegessen hat, kommt unweigerlich mit vollem Mund: „Aber det mit der Vereinjung, det hätten se och anders machen könn, aber mir hat ja keener jefracht, hat mir keener.“
Wenn es draußen dunkel wird und wir drinnen weiter Molle und Korn trinken und die Leberwurststulle längst gegessen und vergessen und Willis Blick schon ein wenig trübe ist, dann guckte er traurig vor sich hin und sagt: „Jetzt is' schlimm, wirklich schlimm. Aber wat soll man machen, ick weeß och nich.“
So ist das mit Willi.
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In der vergangenen Woche trafen sich in Röttgen bei Bonn rund einhundert Wissenschaftler aus der ganzen Bundesrepublik.
Ihr gemeinsames Problem: Ihnen ist das Objekt ihrer Wissenschaft abhanden gekommen, die DDR. Wenn man sich dennoch zur Jahrestagung der Zunft traf, dann auch, um die Frage zu beantworten, ob es eine Zukunft für die DDR-Forschung geben kann. Die Chancen dafür stehen schlecht.
Erst nach Beendigung der Tagung erschien die 'Zeit‘, in der Carola Becker der DDR-Forschung vorwarf, sie habe „kläglich versagt“, da sie den Zusammenbruch der DDR nicht vorher gesagt habe. Man habe unzulängliche Stellvertreterforschung betrieben, anstatt empirische Daten zu liefern; es sei zu fragen, ob es nicht fatal war, „sich an das Ministerium in Bonn zu hängen“ — gemeint ist das innerdeutsche Minsterium, das die meisten Forschungsvorhaben finanzierte; überdies habe die Zunft im Verein mit dem Ministerium Nachwuchsforscher abgeblockt, die jene dringend benötigten Daten zu liefern imstande gewesen wären. So hätte das sich selbst finanzierende Berliner Büro für qualitative Netzwerkforschung bereits 1988 per Telefonumfrage herausgefunden, „daß die DDR-Rentner verstärkt die schlechte Versorgungslage und die ärmliche Situation der alten Menschen beklagten“. Eine Veröffentlichung sei jedoch am fehlenden Geld gescheitert. Wer im Zentralorgan der DDR-Forschung, dem Deutschland-Archiv nachliest, findet bereits seit Anfang der achtziger Jahre Hinweise auf Umweltgruppen, Jugendproteste und die Schizophrenie, in die sich die DDR-Bevölkerung begab, die streng zwischen öffentlicher und privater Rolle zu unterscheiden wußte. Derlei Wissen reichte den Forschern indes nicht hin, um das Ende der DDR vorherzusagen, und daran haben sie immer noch zu knabbern wie Willi an der Leberwurststulle bei „Robert und Erwin“. Derlei Knabberwerk ist karge Kost, wenn man es zuvor gewohnt war, nicht schlecht zu speisen aus den Fleischtöpfen des inzwischen abgewickelten innerdeutschen Ministeriums. Nun sind die Töpfe leer, statt dessen gibt es Leberwurst, beleidigte allerdings. Denn das „Wir haben es im Grunde schon lange gewußt“ ist nur der erste Teil eines dreifachen Lamentos, das auf der XXIV. DDR-Forschertagung erklang.
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Das Motto des zweiten Aktes stellte in Röttgen der Berliner Hartmut Zimmermann vor: Die DDR-Forschung habe Informationen geliefert, die man beim Prozeß der Vereinigung beider deutscher Staaten dringend hätte gebrauchen können. Die Politik jedoch habe das Wissen einfach nicht abgefragt. Statt dessen rief die Bundesrepublik zur DDR wie in Grimms Märchen die Blutwurst zur Leberwurst: „Hätt ich dich, so wollt ich dich.“
Im Märchen entkommt die Leberwurst. Doch das Leben ist anders, die bundesdeutsche Blutwurst bekam, was sie wollte, und jetzt haben wir den Wurstsalat. Aber zurück zur Wissenschaft, auf die keiner hören mochte. Hartmut Zimmermann erntete in Röttgen Widerspruch. Der Münchener Ökonom Friedrich Haffner konterte lapidar, man könne der Politik nicht vorwerfen, daß sie sich nicht nach der Theorie gerichtet haben, denn: „Es gab keine Transformationstheorie“, die hätte lehren können, wie man aus zwei Staaten einen macht.
Es ist bezeichnend für die Tagung der DDR-Forscher, da der Widerspruch lediglich formuliert, jedoch nicht diskutiert wurde. Überhaupt blieb vieles offen. Vor allem auf die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland zeigten die Wissenschaftler sich wenig vorbereitet. Daraus folgt ihr drittes Lamento, das sich lediglich im Anspruch von Willi und seinen Sentenzen am Freitag abend „Bei Robert und Erwin“ unterscheidet — Hilflosigkeit auf hohem Niveau offenbare sich, so einer der Tagungsteilnehmer. Das ist zumindest ehrlicher als die falschen Vergleiche, die zur Beschreibung der Situation angestellt wurden.
„Neue Deutsche Gründerzeit“, so war die XXIV. DDR-Forschertagung betitelt. Jörg Roesler vom Ostberliner Institut für Wirtschaftsgeschichte versuchte, die Parallele zu belegen. Er kam jedoch nicht ohne den Hinweis aus, daß in den Gründerjahren nach 1871 die wirtschaftliche Krise erst am Ende gestanden habe, heute hingegen am Beginn. Zurecht wurde mithin nach der Tauglichkeit eines derartigen Vergleiches gefragt, ebenso bei dem Versuch der Potsdamer Erhard Crome und Jochen Franzke, die Entwicklung der DDR mit der Situation in anderen osteuropäischen Staaten gleichzusetzen — ein sinnloses Unterfangen. Denn die DDR hängt inzwischen am Bonner Tropf, Polen, Ungarn, Rumänien und die CSFR müssen alleine bestehen. Da verglich man eine Leberwurststulle mit Knäckebroten. Das Bemühen wurde zurecht gerügt und beklagt. Irgendwann war des Klagens kein Ende mehr.
Darob platzte Antonia Grunenberg (Bremen) der Kragen: „Wir lamentieren seit der Jahreswende '89. Wir werden aber dafür bezahlt, neue Konzepte und Ideen zu finden.“ Das ist einfacher gesagt als getan. Zwar war man sich einig, daß die Entwicklung in Osteuropa verstärkt in das Bewußtsein rücken müsse, doch der Vergleich von Crome/Franzke war das einzige Indiz dafür, daß man sich um Rückung bemüht.
Manches Bemerkenswerte wurde hingegen aus dem neuen Deutschland berichtet: Da in den ostdeutschen Bundesländern der Mittelstand sich nicht einstelle — woher soll er auch kommen?“ (Hartmut Zimmermann), daß die Position der Gewerkschaft schwächer werde, da sie in Ostdeutschland nicht nur Anwalt der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitslosen sein müsse (Irma Hanke), da die Wirtschaft hingegen aufgrund der Eroberungen der Konzerne im Osten immer mehr vermachte (Friedrich Haffner), da Inflation unausweichlich sei (wieder Friedrich Haffner). Es blieb indes bei der Diagnose.
Dabei hätten diejenigen, die einst die DDR erforschten, gute Chancen, zur wissenschaftlichen Avantgarde aufzusteigen. Denn es kann als ausgemacht gelten, daß in nicht allzulanger Zeit diejenigen die Lufthoheit in den Fachzeitschriften und populären Medien erlangen werden [Wat für 'ne Hoheit?! d.K.], die zwei Dinge miteinander zu verbinden wissen: ein aufgeklärtes, im Zweifelsfall linkes, westdeutsches Bewußtsein und die subtile Kenntnis der Mentalitäten und Vorgänge im Ostteil der Republik.
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Doch die DDR-Forschung ist dabei, ihre große Chance zu verpassen. Nicht ohne Grund forderte Gert- Joachim Glaener (Berlin) zum Abschluß der Tagung ein „ordentliches Begräbnis“ der Veranstaltung, die die letzte ihrer Art war. Denn allzuoft hatte sich gezeigt, daß die Kollegen mit ihren alten Denkmustern der neuen Situation nicht gewachsen waren. Die Sprache brachte es an den Tag. Während die anwesenden Forscher aus Leipzig und Ost-Berlin stets korrekt von Ost- und Westdeutschland redeten, sprachen die westlichen Kollegen munter von „DDR“ und „Bundesrepublik“, wenn sie die Lage im vereinten Deutschland unserer Tage beschrieben. Die beleidigten Leberwürste wurschteln weiter wie bisher, allen anderslautenden Bekenntnissen zum Trotz. Donnerstag war die Tagung zu Ende. Rechtzeitig genug für mich, um Freitag „Bei Robert und Erwin“ am Tresen zu stehen.
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