SPD: Zwei Seelen, ach, in meiner Brust

Mit 203 Stimmen gegen 202 votierten die SPD-Delegierten sensationell knapp für Bonn  ■ Von Tina Stadlmayer

Bremen (taz) — Knapper wäre es nicht mehr gegangen: 203 Delegierte votierten auf dem SPD-Parteitag für Bonn als Regierungssitz, 202 für Berlin. Björn Engholm, der neue Vorsitzende, zog daraus den Schluß: „Diese Entscheidung schreit geradezu danach von einem Dritten, nämlich vom Volk, geschlichtet zu werden.“ Zuvor hatten die SozialdemokratInnen auf ihrem Parteitag drei Stunden lang erregt die Frage „Bonn oder Berlin als Regierungssitz?“ diskutiert. Bonn- und Berlin- BefürworterInnen schlugen sich die bekannten Argumente heftig um die Ohren. Gleich zu Beginn brachte allerdings der Hamburger Regierungschef Henning Voscherau den Vorschlag aufs Tapet, den Engholm am Ende aufgriff: Eine Volksabstimmung solle über den Regierungssitz entscheiden. Doch zunächst wollten die meisten davon nichts wissen.

Der Ostberliner Wolfgang Thierse hielt eine kämpferische Rede für Berlin. Wer 40 Jahre lang von der Hauptstadt Berlin geredet habe, werde unglaubwürdig, wenn er jetzt für Bonn stimme. Berlin sei ein „Symbol wirklicher Solidarität und Zuwendung“ für den Osten. Murren kam auf, als er sagte: „Eine Entscheidung für Bonn wäre der Vollzug des Anschlusses“. Auch der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe plädierte für Berlin. Der Umzug dorthin solle jedoch zehn bis fünfzehn Jahre dauern. Aus dem Rahmen fiel Erhard Epplers eindringliche Ansprache: „Natürlich hat Bonn eine glücklichere Geschichte als Berlin“, rief er sichtlich bewegt. In Berlin finde sich Schönes und Schreckliches nah nebeneinander. Deshalb wolle er „daß die künftig Deutschland Regierenden mit diesen schreienden Steinen konfrontiert sind. Jeden Tag.“

Ganz anders die polemische Rede Egon Bahrs: „Was eigentlich hat Berlin verbrochen, daß es plötzlich nicht mehr Haupstadt sein soll?“ Alle Probleme eines möglichen Umzuges seien schon seit vierzig Jahren bekannt. Erst seit dem Mauerfall würden sie von einigen als unüberwindlich gehalten. Ebenso polemisch machte der Ex-Vorsitzende Hans- Jochen Vogel den CDU-Bürgermeister von Bonn zum Kronzeugen für seine Position. Der hatte versprochen, bis zur Wiedervereinigung sei Bonn lediglich „Platzhalter“ für Berlin. Vogel bestand nun auf der Einlösung des Versprechens. Berlin brauche auf jeden Fall finanzielle Hilfen, deshalb sei das Kostenargument der Bonn-Befürworter hinfällig.

Auch Willy Brandt ergriff das Wort: „Bis zum November '89 war klar: Wenn es die Einheit gibt, gehen wir zurück in das Berlin, das so gelitten hat.“ Er stellte die Frage: „Ist das alles nur erklärt worden, weil klar war, daß es nicht dazu kommt?“. Den Antrag der Bonn-Befürworter bezeichnete er als „einen Witz, eine Verhöhnung“.

Für die Bonn-Befürworter ging Oskar Lafontaine in die Bütt. Er entwarf zunächst eine Zukunftsvision: „Wir brauchen keine nationale Hauptstadt, denn wir wollen die politische Union Europas.“ Weder ein Verteidigungs- noch ein Außenministerium sei noch nötig, „wenn es keinen Nationalstaat mehr gibt“. Dann brachte er die üblichen Kostenargumente der Bonn-Befürworter: Ein Umzug nach Berlin sei viel zu teuer und schaffe „städtebauliche Probleme“ für die Region um Bonn.

Finanzexpertin Ingrid Mathäus- Meier rechnete vor: Der Umzug nach Berlin koste 50 bis 59 Milliarden Mark. Dieses Geld gehe dem Aufbau im Osten verloren. Auch Anke Fuchs plädierte für Bonn. Horst Ehmke sagte, das Kostenargument sei zwar nicht primär, aber: „Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, aufs Geld komme es nicht an.“ Auch der nordrhein-westfäliche Ministerpräsident Johannes Rau warb für Bonn. Der Versöhner plädierte jedoch zunächst gegen ein „politisches Elfmeterschießen“ auf dem Parteitag. Es sei nicht hilfreich, Berlin als Symbol der preußischen Übermacht zu karikieren. Allerdings dürften auch die Bonn-Befürworter nicht als Gegner der Einheit hingestellt werden. Björn Engholm sprach als letzter. Er sei zwar für Bonn, aber er wisse auch, daß es „zur Zeit gewichtigere Probleme“ gebe. Es sei schon seltsam, „daß Hans Jochen Vogel in dieser Frage mit Helmut Kohl marschiert und Johannes Rau mit Max Streibel Arm in Arm spazieren geht“. Wie immer die Entscheidung ausfalle: „Der Gewinn ist für die Gewinner kein Sieg.“ Die Institution des freien Mandates sei wichtiger als die Frage des Regierungssitzes. Deshalb dürfe die Entscheidung des Parteitages für die Abgeordneten nur richtunggebend, aber nicht bindend sein.