ZWISCHEN DEN RILLEN

■ Der magische Ursprung der norwegischen Volksmusik

In seinen (ganz aus Holz gefertigten) Stabkirchen besitzt Norwegen einzigartige Zeugnisse einer frühmittelalterlichen Architektur, in der ältere heidnisch-magische Vorstellungen mit den Glaubensinhalten des Christentums eine eigentümliche Synthese eingehen. Die an ihren Außenfassaden angebrachten holzgeschnitzten Dämonenfratzen, Drachenschädel und Geisterfiguren offenbaren die mythische Dimension einer bäuerlichen Volkskultur, die sich in der Einsamkeit der Fjorde und gebirgigen Täler mit dieser Art Abwehrzauber gegen die dunklen Mächte einer unberechenbaren Natur zu wappnen suchte. Auch in den überlieferten Volkssagen ist diese magische Weltsicht noch präsent, ebenso in den Liedtexten der traditionellen Volksmusik, deren Wurzeln in die Zeit des Mittelalters zurückreichen und die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde.

Die Folksängerin Agnes Buen Garnas, die aus dem Jodalen, einem Tal in der Telemark, stammt und zu den bekanntesten Sängerinnen der norwegischen Volksmusiktradition gehört, hat die Lieder noch von ihrer Mutter gelernt. Vor allem in den Balladen und poetischen Tanzversen hat das kollektive Gedächtnis die Erinnerung an die vorchristliche Mythenwelt bewahrt. Dem Wispern der Bäume und dem Raunen der Berge wurde etwa die Geschichte des jungen Pferdes „Rosensfole“ abgelauscht oder die Begebenheit mit „Bergjekongen“, dem König der Berggeister, und dem Riesen „Jutul“. Agnes Buen Garnas singt diese märchenhaften Liedgeschichten in einer lyrisch ruhigen Weise, was den sanften einstimmigen Melodien angemessen erscheint, die Lichtjahre entfernt sind von der Hektik der Moderne und für die der Jazzmusiker Jan Garbarek aus behutsamen Saxophontönen, Synthesizerflaum und fließender Percussion eine passende Begleitung modelliert hat.

Von dieser nördlichen Tradition einer „dunklen Sicht nach innen“ spricht auch der New-Music-Komponist Ingram Marshall auf dem Covertext einer anderen Neuerscheinung mit norwegischer Folklore, Nordisk Sang betitelt. Ebenfalls vorherrschend sind hier die sparsam instrumentierten Tanzmelodien, zumeist solistisch oder im Duo vorgestellt. Das entspricht dem Charakter ihrer Herkunft: In den dünn besiedelten Bergtälern Norwegens, wo in früheren Zeiten die Armut das Lebensgefühl bestimmte, war man froh, wenn man zum Haustanz an Festtagen eines Musikers habhaft werden konnte — an ein ganzes Ensemble war erst gar nicht zu denken. Das hat die Musik geprägt. Die Musikanten waren gezwungen, aus der Not eine Tugend zu machen. Als Solisten mußten sie versuchen, wie eine ganze Band zu klingen. Daraus entwickelten sie eine ganz eigene Spieltechnik für die Hardanger- Fiedel, die spezielle Violine Norwegens mit ihren vier Griff- und vier Resonanzsaiten. Auf ihr konnte man mehrstimmig spielen, indem man sich auf den tiefen Saiten — mittels Bordun — selbst begleitete. Der Rhythmus wurde mit dem Fuß auf dem Boden geschlagen. Wunderschöne mollgefärbte, spröde Tanznummern sind aus diesem Zwang zur One-man-Band heraus entstanden.

—Agnes Buen Garnas, Jan Garbarek: „Rosensfole — Medieval Songs from Norway“ (ECM 1402)

—„Nordisk Sang — Music of Norway“ (New Albion Records NA031 AAD)

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