: Die Differenz des Unterschieds
Das Frankfurter Symposion „Europäische Großstadtkultur“ oder Wie Kommunikation sich selbst abschafft ■ Von Reinhard Mohr
Man hätte gewarnt sein können. Es gab keine Plakate, die Einladungskarten wurden erst in letzter Minute fertig, und das bunte Faltblättchen stellte sich gleich selbst infrage: „Warum denn noch dieses Symposion?“ Erst als es schon zu spät war, fiel der Blick auf die Antwort: „Das Wort Großstadt beschreibt knapp eine unerschöpfliche Vielfalt von Wirklichkeiten und Möglichkeiten, Sodom und Gomorrha, Verkehr und Parks, Bankpaläste und Kellertheater, Kneipen und Kunsttempel, Verfall und Sanierung, Elend und Luxus.“ Und: „Wer Kultur sagt, so heißt es in einem Aufsatz Adornos, sagt stets auch Verwaltung. Sie soll zu Wort kommen.“ Schließlich: „Ein solcher Diskurs ist, wie Kultur selbst, überhaupt unabschließbar.“
Wie ernst diese Drohungen gemeint waren, zeigte bereits der Eröffnungsabend des zweitägigen Symposions „Europäische Großstadtkultur“ im Mozartsaal der Frankfurter Alten Oper. Der Diskurs unter den geladenen Kulturdezernenten (beziehungsweise ihren Vertretern) aus Glasgow, Lyon, Mailand, Rotterdam und Barcelona (Krakau und Leningrad mußten kurzfristig absagen) war so offen, daß niemand sagen konnte, wo mit ihm anfangen und zu welchem Ende. Die Gesprächskultur der bedingungslosen Kommunikation durch die sanfte Gewalt zielloser Geschwätzigkeit, daß sich die Klappentextversion der Habermas'schen Kommunikationstheorie inzwischen flächendeckend durchgesetzt hat, ihr wahrer Kern aber geradezu ins Gegenteil verkehrt wurde. So war es kein Wunder, daß der echte Jürgen Habermas, wie viele andere der zweihundert ZuhörerInnen, der Veranstaltung vorzeitig entfloh.
Dabei hatte die Moderatorin, Frankfurts Kulturdezernentin Linda Reisch, sogar mit einem längeren Rilke-Zitat versucht, das Thema anschaulich zu formulieren. Von „Distanz und Nähe“ war ebenso die Rede wie vom „bunten Treiben in den Städten“, von „Graffiti und Straßencafés, Werbung und Kunst am Bau“. Alles stehe ständig in irgendeinem „prekären Verhältnis“, stets sind „Orte der Aufklärung bedroht“. Andererseits „wollen Städte heute inszeniert, Ereignis sein“. Gleichzeitig tobt der kritische Diskurs „in unzähligen intellektuellen Foren“, entwickelt sich „Kreativität“ inmitten all der „Komplexität“.
Doch diese Versatzstücke aus dem PC-Baukasten öffentlicher Reden über Kultur reproduzieren nur die unbegriffene Geschäftigkeit der Amtsträger, deren Inszenierungen von Weltläufigkeit vor allem Licht auf ihre Provinzialität werfen.
Die internationalen Gäste jedenfalls reagierten auf den postmodernen Jargon der Eigentlichkeit mit dem Hang zur pragmatischen Selbstdarstellung: Public Relations mit Problembewußtsein. Die Probleme der großen Städte sind überall die geichen. Kultur ist längst zum ökonomischen Faktor, zum „Standortfaktor“ geworden, gleichzeitig auch eine sublime Form der Sozialpolitik, die schnell an ihre Grenzen stößt: Finanzprobleme einerseits, zum anderen die Erkenntnis, daß tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte — Massenarbeitslosigkeit, Drogen, Ghettoisierung von Randgebieten — nicht mit Pantomimefestivals oder einer Stadtteilbücherei zu beheben sind.
„Was ist Urbanität?“, fragte der New Yorker Soziologieprofessor Richard Sennett (Die Tyrannei der Intimität) in seinem Vortrag, der Thesen seines jüngsten Buches (Civitas — Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, 1991, siehe Literataz vom 25.Mai 1991) enthielt. Gerade aufgrund der „materiellen Komplexität“ städtischer Gesellschaften stehe die Bedeutung der „Differenz“ im Mittelpunkt urbaner Kultur. Zugleich aber, so Sennett, sei eine Entwicklung wachsender Indifferenz der ethnischen und sozialen Kulturäußerungen zu beobachten, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Fremden, Anderen, die eine „Neutralisierung der stimulierenden Wirkung“ städtischer Öffentlichkeit zur Folge habe. So werde gerade in Zeiten starker Migration und extremer Internationalisierung des Kapitals „Identität“ wieder zur Festung, die vor dem bedrohlich anderen schützt. Sennetts Vorschlag: Die „Peripherie“ gegen das „Zentrum“ stärken, die Ränder und Grenzbereiche gegen die selbstgewisse Mitte.
Wer gehofft hatte, diese Worte könnten eine Diskussion unter europäischen Kulturpolitikern von Glasgow bis Barcelona stimulieren, sah sich getäuscht. Linda Reisch moderierte so gründlich, daß am Ende keine Frage mehr übrig blieb, die irgend jemand hätte beantworten können. Die ausländischen KollegInnen bewahrten die Fassung und schlugen sich tapfer durch den Nebel profaner Unübersichtlichkeit. Sie reagierten mit kurzgefaßten Rechenschaftsberichten ihrer Kulturverwaltungen, die allesamt Platz in einem Infoblatt des Fremdenverkehrsamtes gehabt hätten. Der Mailänder Kollege Marco Parini referierte minutenlang über die verlängerten Öffnungszeiten der Museen und den verstärkten Rentnereinsatz zur Behebung der Museumswärternot — auch hier das sozial Nützliche mit dem kulturell Wünschenswerten verbindend. Jean McFadden, Glasgows Kulturdezernentin, berichtete über grassierende „Kulturmüdigkeit“, nachdem die schottische Metropole 1990 offiziell zur „Europäischen Kulturhauptstadt“ erklärt worden war. Zudem sei der sparsame Schotte nach dem Desaster der „poll tax“ noch weniger bereit, igrendwelche Steuern zu bezahlen.
Lyon hob die Förderung jugendlicher Kulturinitiativen hervor — von den „riots“ in der „banlieue“ war nicht die Rede. Über Barcelona, das statt des Dezernenten gleich die PR- Vertreterin entsandt hatte, war zu erfahren, daß die soziale Geographie auch hier in Zentrum und Peripherie zerfalle. Was wie eine Bestätigung von Sennetts Diktum klang, war vielmehr ein Mißverständnis, dem sich auch Linda Reisch bereitwillig anschloß: Auf die „Differenz des Unterschieds“ komme es an, auf die „Osmose“, mithin jene „Kommunikation“, mit deren Hilfe man sich „das Fremde in den Stadtteilen aneignen“ und sich schließlich mit den Stadtteilen selbst „identifizieren“ solle.
Tatsächlich sind „Zentrum“ und „Peripherie“ nicht allein soziale oder geographische, sondern vor allem strukturelle Begriffe. Wenn es stimmt, daß Bürger irischer Abstammun in New York niemals auf die Idee kämen, ein jamaikanisches Straßenfest zu besuchen — wie Richard Sennett glaubwürdig berichten konnte —, dann ist die „Peripherie“ jamaikanisch; im umgekehrten Fall wäre sie „irisch“, unter anderen Aspekten womöglich „chinesisch“ oder „hispanisch“. Andererseits kann das vermeintliche soziokulturelle „Zentrum“ von der „Peripherie“ her erschüttert werden — wie die späten sechziger Jahre, aber auch jene (Re-)Volten und Avantgarden zeigten, die ohne Kultursymposien die Bühnen städtischer Öffentlichkeit eroberten. Das implizite Thema der veränderten Wechselbeziehungen zwischen „Peripherie“ und „Zentrum“, der Kern der verschiedensten Des-Integrationsprozesse in der Großstadt, blieb unausgesprochen und fand seinen stummen Ausdruck nur in jenem Kulturpositivismus, der stets auf der Suche nach Lücken in der „Infrastruktur“ ist, die es zu schließen gelte.
Richard Sennetts Bemerkung, über die Kunst, an der Veränderungen besonders deutlich würden, werde überhaupt nicht geredet, traf buchstäblich ins Schwarze und verschwand dort in Sekundenschnelle. Seine Erinnerung an frühere Zeiten, als Künstler nicht „Kulturträger, Funktionäre und Marketing-Experten in eigener Sache“ waren, sondern im Zweifel aus der „Peripherie“ gegen das „Zentrum“ des (musikalischen, literarischen, dramaturgischen) Mainstream opponierten, konterkarierte die Sozialdemokratin Reisch mit jenem Geschichtsbewußtsein, das sich Kunst nie ohne Kulturfürsorge vorstellen kann: „Kunst war immer staatlich gekauft und unternehmerisch gefördert.“
Wer nach solchen Erkenntnissen noch die Kraft aufbrachte, auf die Runde europäischer Kulturkritik zu hoffen, die am zweiten Abend des Symposions unter der Leitung von „aspekte“-Chef Johannes Willms „die theoretische Reflexion der kulturellen Praxis“ (Faltblatt) betreiben sollte, fand sich bereits im Kreise einer kleinen, radikalen Minderheit von gut siebzig Unentwegten wieder. Doch auch die berufenen Kritiker brachten keinen Diskurs zustande, der das Nullsummenspiel der Kommunikation über Kommunikation hätte durchbrechen können. Wie am Vorabend stand der organisatorische Aufwand inklusive Simultandolmetschanlage in einem grotesken Mißverhältnis zur substantiellen Sprachlosigkeit, dem Phänomen, daß es gerade der institutionalisierte Diskurs „urbaner Streitkultur“ ist, der die Indifferenz bis zur Ekstase treibt, die laut Baudrillard „den Übergang einer inhaltsleeren und leidenschaftslosen Form in einen Zustand der Reinheit“ charakterisiert.
Diese Indifferenz zeichnet sich durch ihre Gleichgültigkeit selbst noch gegenüber der präzisesten Widerrede aus. Ihr affirmativer Charakter ist längst postideologisch; ihn trifft kein Urteil, kein „kritisierbarer Geltungsanspruch“ à la Habermas mehr. Die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche werden bestenfalls als „Rausch“ wahrgenommen. So war es kein Zufall, daß weder über die Umwälzungen in ganz Osteuropa noch über die zur gleichen Zeit in Frankfurt stattfindende Konferenz „Multikultur in der Stadt“, auf der über Europa als Einwanderungskontinent debattiert wurde, auch nur ein Sterbenswörtchen verloren wurde.
Wie ein Signal aus einer fernen Welt klang da die Feststellung der Kritikerin aus Glasgow, Kultur könne nicht wie Lebertran verabreicht werden. Arbeiter ihrer Stadt hätten hart öffentlich geäußert: „Wir wollen keine Oper!“
Doch selbst der Frankfurter Publizist Dieter Bartetzko, der vor der Gefahr des angepaßten „Kulturmanagements“ warnte — abschreckendes Beispiel: das von der Lufthansa gesponserte Jazzfestival — und das schöne Wort „Emanzipation“ wieder aufgriff, zu welchem Zweck „das kulturelle Erbe — Aufklärung für alle!“ — aufbereitet werden müsse, entging nicht dem unerbittlichen Willen von Johannes Willms, „Gemeinsamkeiten“ herauszuarbeiten. Nach genau fünfundachtzig Diskursminuten weissagte er den verbliebenen siebenundfünfzig ZuhörerInnen eine „Renaissance der Städte“, eine „große Zukunft für Dresden“ („Ich komme gerade da her“), lobte „das tolle Kulturangebot Frankfurts“ und wünschte einen schönen Abend auf dem Frühlingsfest in der Fußgängerzone nebenan.
So stand nur noch die Frage im Raum, warum nicht gleich Gambas und Champagner angesteuert und die 100.000 DM, die diese organisierte Unverschämtheit kostete, der Städtischen Obdachenlosenhilfe vermacht wurden.
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