ÜBERHAUPTSTADT

■ Die Wahrheit der Polyzentrismus-Lüge

Am 20. Juni wollen sie also tatsächlich entscheiden, „unsere“ Parlamentarier — das ist bedauerlich. Zwar soll man immer dann aufhören, wenn es gerade am schönsten ist, ob freilich der Eiertanz Hauptstadtfrage wirklich schon seinen Höhepunkt erreicht, ist zu bezweifeln. Das als Plädoyer für den Abschluß der Debatte am häufigsten vorgebrachte Argument — daß alle Argumente bekannt seien — ist gerade keins. Im Gegenteil — erst wenn alle Argumente auf dem Tisch sind, und es aufs Feilen, Zuspitzen, Verbiegen etc. ankommt, wird die Debatte richtig interessant. Vorher, d.h. solange auch noch ein einziges Argument unbekannt ist, kann von Debatte recht eigentlich gar keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um einen unbedarften Austausch von Dummheiten, dem jederzeit, durch Auftauchen des entscheidenden unbekannten Arguments, ein Ende gesetzt werden kann. Und gerade jetzt soll all das durch Abstimmung beendet werden? Ein Skandal. Bonn!, Berlin!, Bundesrepublik!, Zone!, herhören: Die Debatte fängt, nach monatelangem Austausch von Dummheiten (von „Umzugskosten“ bis „Haupstadt-Versprechen“) und der akribischen Sammlung sämtlicher Argumente, soeben erst an — wie kann man da, als Volk oder via Vertreter, zur Urne schreiten und abstimmen?

Wie? Es eilt? Daß es sich bei der Sache mit der Eile, mit dem „Mantel der Geschichte“, den es blitzartig zu erreichen gelte, mit Verlaub um eine Scheißhaus-Parole handelt, hat die hingehudelte Blitz-Vereinigung ja nun bestens gezeigt — noch der gröbste Pfusch am Bau ist solides Handwerk, verglichen mit dem dilettantisch hingebretterten „Deutschen Haus“. Der Oberpolier steht statt im historischen Mantel mittlerweile nur noch im Hemd, und bis er bei „Tutti Frutti“ landet — „die Mandarine oder den Kohl?“ —, ist nur noch eine Frage der Zeit.

Aber im Ernst: Überläßt man — und wir, das Volk, sind ja schließlich der Bauherr —, überläßt man einem derart schlamperten Handwerker-Trupp auch noch den Innenausbau? Und das schon wieder in einem Tempo, dessen Termine nicht von langfristigen, bau-biologischen Anforderungen, sondern vom nächsten Schönheitswettbewerb der Obermaurer diktiert werden. Ja, aber es muß doch wirklich schnell gehen, Entscheidungen müssen her, in Berlin muß doch geplant, gebaut werden? In Berlin wird ohnehin gebaut — und ob nun Daimler Benz oder das Verteidigungsministerium später in die Büros einzieht, macht nun wahrlich keinen großen Unterschied. Rund um den Spreebogen werden so oder so Bürohäuser enstehen, und es ist ziemlich egal, ob Aufsichtsräte oder Ministerien dort tagen. Dasselbe gilt umgekehrt für Bonn — das Regierungsviertel läßt sich ohne weiteres in ein Headquarter für Euro-Multis umwandeln. Rein planungsmäßig besteht also nicht der geringste Anlaß, den Innenausbau mit oberfaulen Kompromissen übers Knie zu brechen. Gerade jetzt, wo Finanzminister Waigel ein Argument zurechtgefeilt hat, das die Debatte endlich auf Niveau bringt. Die CSU, so Waigel, sei für eine „polyzentrische Struktur“.

Zwar ist die CSU de facto für einen duo-zentrischen Bonn-Berlin-Mix — doch unbewußt hat unser Finanzminister mit seiner Polyzentrismus- Lüge den richtigen Impuls gegeben — er führt auf direktem Weg zur Kernfrage: Warum überhaupt Hauptstadt? Ist eine Überhauptstadt, wie sie in der Vergangenheit zur Organisation domestizierter Primaten-Herden notwendig war, den Erfordernissen der Zukunft überhaupt noch angemessen? Die Wissenschaft hat auf dem Feld der Biologie, der Neurologie und der Computertechnik in jüngerer Zeit, einige Entdeckungen gemacht, die alle auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen: Je komplexer ein System ist, desto schlechter funktioniert hierarchische Organisation. Bei einfachen Rechenaufgaben sind hierarchisch aufgebaute Computer schneller als ihre „polyzentrischen“ Kollegen, steigt jedoch die Schwierigkeit des Problems, ist der als Netzwerk aufgebaute Parallelrechner weit überlegen. Überall in der Natur stießen die Forscher auf neuronale Netze, Nichtlinearität, Parallelismus — der Waigelsche Polyzentrismus ist die Architektur der Intelligenz. Die wirkliche Haupstadtfrage ist hiermit eröffnet.

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