DEBATTE
: Die Grünen ohne Feindbild

■ Warum die Grünen einen strukturierenden Vorstand brauchen

Schadet es den Grünen, daß sie im Augenblick in Bonn nicht vorkommen? Sind die Grünen das stumme Allesmögliche, das in schweigender Solidität an allen großen Debatten, die die Republik gerade quälen, beteiligt ist, ohne mitzureden und ohne, daß die Öffentlichkeit vermißt, was die Grünen dazu zu sagen haben? Nur zur Erinnerung: Die Fundis sind in Neumünster gegangen, und die Mehrheit der Partei — jetzt ohne ein leicht zu bekämpfendes Feindbild — steht nackend in den Erbsen. Oder? Aber mit welcher Politik die Grünen in den Bundestag und in die Bundesregierung in Bonn gelangen wollen, das ist nach wie vor unklar.

Grüne Bündnisperspektiven

Nach ihrem Bremer Parteitag ist klar, daß jetzt nicht die konzeptionellen Gegensätze zur Regierungskoalition die Politik bestimmen werden, sondern eher die personelle Zuspitzung auf die Frage, wem eher zugetraut wird, mit den anstehenden Problemen fertig zu werden. Aber wie auch immer die SPD mit dieser Option umgeht, sie wird im Bund niemals eine absolute Mehrheit erringen, ist also immer auf die FDP oder die Grünen angewiesen. FDP oder Grüne als Partner der SPD, ob in einer Ampel oder jeder allein, das ist strategisch die entscheidende Frage für jeden Machtwechsel in der neuen oder alten Hauptstadt. Selbst wenn es im Bund keine Alternative geben sollte — in einigen Ländern sind sicher bald auch andere Konstellationen denkbar. Und die Grünen wären schlecht beraten, wenn sie einfach die Politik der SPD kopierten, um dann von Wahl zu Wahl doch nur eine Wählergruppe untereinander auszutauschen. Die dabei zustande kommenden Mehrheiten bleiben zu klein, zu zufällig und sind nur eingeschränkt offen für grundsätzliche Reformen. Gerade weil im Bund mit der SPD regiert werden soll, schon bald, sollten die Grünen mit der FDP offen um die Regierungsbeteiligung und die Mehrheitsbeschaffung konkurrieren.

Die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen politischen Geschichte gehört zur grünen Politik, ist grüner Traditionsbestand, darf nicht ausgeschlossen oder marginalisiert werden. Inwieweit die Linke grüne Politik künftig wird prägen können, bleibt abzuwarten. In Bremen war bereits zu beobachten, daß sie eher dazu neigt, sich positiv oder in der alten Haßliebe außen vor wieder auf die SPD zu konzentrieren. Dort gehört sie von den Traditionsbezügen hin.

Programmatische Erneuerung

Im Gegensatz zur SPD aber, die mit Engholm jetzt voll auf die Personalisierung der politischen Machtauseinandersetzung setzen kann, müssen Grüne ebenso wie die FDP ihren Wählern und der großen Zahl der Wechselwähler ein zumindest faszinierendes programmatisches Angebot vorlegen, das über das Rechts- Links-Denken hinausreicht. Die Grünen aber haben jetzt Chancen, sich auf ihr Wählerpotential aus den ungebundenen liberalen, aber ethisch und moralisch wertebewußten Mittelschichten zu konzentrieren. Sie sind keine Lagerpartei mehr. Das ist nach Hamburg noch klarer. Die Tugenden des Citoyen — antiideologisch, problemorientiert und selbstverantwortlich, staatsfern aus Freiheitswillen bis zur Selbstgefährdung — bilden ein hochflexibles, unberechenbares, aber politikentscheidendes Potential. Sich über das grüne Wählerpotential klar zu werden ist um so wichtiger, als die Grünen wie die FDP keine Partei sind, die allein aus ihrem Mitgliederstamm Einfluß und Stimmen gewinnen kann. Das müssen überzeugende Personen und ein unverwechselbares Profil leisten. Vor dem Glauben an einen Automatismus, der von einer erfolgreichen Arbeit in den Länderregierungen in den Bundestag führe, kann man nur warnen. Die Durchsetzung des grünen Anspruchs auf das Mitgestalten der ganzen Republik muß selbständig formuliert werden. Das ist die zentrale Aufgabe des neuen Bundesvorstandes.

Freiheit, Ökologie,Pragmatismus, an diesen drei Begriffen kann sich jetzt das Selbstverständnis der Grünen schärfen. Schrankenloser Individualismus versus moralisierenden Kollektivismus — nur die mit den Mehrheiten gewollten und nicht vom Staat diktierten Einschränkungen der Freiheit aller, damit die Freiheit jedes einzelnen überleben kann, haben eine Chance, die Zustimmung der Mehrheiten zu den zwangsläufigen Umbrüchen der Lebensstile zu bewirken. Die Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten und des demokratischen Rechtsstaates sind unantastbarer Inhalt grüner Politik. Beschleunigungs- und Rechtsmittelverkürzungsgesetz, forcierte Zentralisierung in der Bildungspolitik, denen SPD und SPD, wenn überhaupt, nur halbherzig widersprechen, zeigen, wie sehr die Grünen hier fehlen.

Pragmatismus heißt die Methode, sich offen den scheinbar ausweglosen Problemen, vor denen die Zivilisation steht, zu stellen. Viele Linke und auch Grüne haben sich viel zu lange von abstrakten Befreiungsvisionen beherrschen lassen und damit vom Lebensstrom der Zivilisation abgeschnitten. Die Chancen für den Untergang der Menschheit sind mindestens genausogroß wie die, ihm in atemberaubenden Manövern auszuweichen. Dabei werden alle, die sich beteiligen wollen, gebraucht. Die Zeit der einfachen Wahrheiten jedenfalls ist bei den Grünen jetzt zu Ende.

Die Grünen als die Partei der „Verhandlungsdemokratie“ (Raschke), das kann ihre unverzichtbare und unverwechselbare Rolle im Parteiengefüge sein. Sie sind nicht gezwungen, wie die SPD mit falschen Stimmen das bloß rhetorische Lied vom Teilen zu singen, sie sind nicht gezwungen, wie die CDU auf die Unternehmerinteressen oder die katholische Kirche Rücksicht zu nehmen, sie sind auch nicht wie die FDP gebunden an die Karrierebedürfnisse von Immobilienhändlern, Malermeistern und Yuppiemittelschichtlern. Alle, die an Eigennutz und Verantwortung, an Individualität und gesellschaftlicher Vernunft interessiert sind, könnten jetzt auf die Grünen hoffen.

Aufgaben des Bundesvorstandes

Der Bundesvorstand, der an diesem Wochenende komplettiert werden soll, hat, ganz gleich wie er zusammengesetzt sein wird, drei zentrale Aufgaben zu erfüllen:

1. Er sollte einen Strategierat berufen, der mit Intellektuellen aus der Partei und vor allem von außerhalb für die Selbstverständigung der Partei zu verschiedenen Fragen Grundsatzpapiere vorlegt, die in der Partei breit diskutiert werden können.

2. Die Selbstklärung der Bürgerbewegung in den fünf neuen Bundesländern kommt gut voran. Mit der Gründung von Bündnis 90 als parteiähnlicher Organisation und den Selbstklärungen im Neuen Forum gibt es gute Voraussetzungen für einen Zusammenschluß in spätestens zwei Jahren, vielleicht unter dem Namen Grüne/Bündnis90. Voraussetzung dazu aber ist, daß die Grünen den gerade aufgegebenen Betroffenenkult nicht an den Ex-DDRlern wiederbeleben. Die kulturellen Differenzen mit ihnen werden noch sehr lange bestehen. Die Grünen hätten einen Vorteil gegenüber allen anderen Parteien, wenn sie sich diesen Gegensätzen streitbar stellen würden.

3. In allen Bundesländern, in denen die Grünen im Augenblick nicht in den Länderparlamenten vertreten sind, muß verstärkt mit personellem Einsatz und finanzieller Unterstützung beim Wiederaufbau geholfen werden.

Ein Linienvorstand jedenfalls fürs langsame Ausklingen des Linksbleibenwollens, aber schon nicht mehr Sogenauwissens, was das nun eigentlich noch sein soll, wird den Grünen vielleicht nicht schaden, aber voranbringen wird er sie nicht. Es liegt am neuen Bundesvorstand, am Wochenende in Köln deutlich zu machen, ob er sich mit der ganzen Partei auf den Weg in die Regierung in der „Hauptstadt“ machen will. Udo Knapp

Richtigstellung: Dem Redakteur dieser Seite ist im Text von R. Mohr in der gestrigen Ausgabe eine dumme Schlamperei unterlaufen. Durch Weglassung der Zeile „die historische Erfahrung der Linken im Widerstand gegen“ die instrumentelle Vernunft etc. hat er den Autor zu einem Technokraten gemacht, der er bekanntermaßen nicht ist. U.H.