KOMMENTARE
: Hauptstadtfrage und Politik

■ Über Kriterien für einen Konsens in der Debatte um Bonn oder Berlin

Der Streit in der Hauptstadtdebatte mutet absurd an wie ein Wortwechsel zweier Theaterkritiker, die sich während eines Theaterbrandes über den künstlerischen Wert der Uraufführung in die Haare geraten. Man kann es nur begrüßen, daß die Vertreter der demokratischen Institutionen zusammen mit dem Bundespräsidenten in der lobbyistischen Hektik agieren wollen. Es ist richtig, am Termin der Hauptstadtentscheidung festzuhalten. Denn es gibt keinen späteren Termin, an dem über das Thema Bonn oder Berlin mit Abstand geredet werden könnte. Es ist richtig, einen Konsens zu suchen, denn die Unterlegenen in diesem Streit dürfen sich nicht als die Geschlagenen fühlen. Man muß es politisch begrüßen, daß die real existierende Spaltung des vereinigten Deutschlands offengelegt wird, aber es wäre verheerend, würde sie durch die Hauptstadtentscheidung befestigt. Vor allem aber ist es richtig, daß die Koalition das sozialdemokratische Begehren nach einem Volksentscheid weggewischt hat. Daß die SPD gerade dann, wenn die Politik zu versagen droht und die eigene Partei sich nicht zu einem klaren Kompromiß durchzuringen vermag, nach dem Volksentscheid ruft, beleuchtet den Mangel an Demokratieverständnis dieser Partei. Ein Volksentscheid jetzt zur Frage Bonn oder Berlin zielt nicht auf das Volk als Souverän. Wie auch immer die Auseinandersetzung um einen solchen Volksentscheid geführt würde, sie könnte nicht anders, als mit dem Gegensatz von „Ossi“ und „Wessi“ zu spielen — und ihn zu vertiefen.

Das „hohe Gremium“ will also einen neuen Konsens ausarbeiten. Ein paar Kriterien kann man schon benennen. Bedacht werden sollte, was in diesem Streit zutage tritt. Es ist die Wiederkehr dessen, was die Vereinigung verdrängt hat, ihr Geburtsmakel: Die Westdeutschen sind nicht gefragt worden. Es gibt ein massives — und verständliches — Ressentiment der Westdeutschen gegen das vereinte Deutschland, das sich als Aversion gegen Berlin ausdrückt. Die Hauptstadtentscheidung kann das nicht auflösen. Im Gegenteil: Dieser Streit zwingt zum ersten Mal überhaupt die politischen Kräfte zur Einsicht, daß mit Kabinettsentscheidungen, parlamentarischen Mehrheiten und der Funktionslust der Ministerialbürokratien allein die Probleme der Vereinigung nicht zu bewältigen sind. Die Konsenssuche ist also keine höhere Mauschelei, sondern so etwas wie Akzeptanz der Realität. Die Verfassungsdebatte wäre zumindest eine denkbare Antwort. Weiterhin muß es klar sein, daß bei einem Kompromiß Parlament und Regierung nicht räumlich getrennt werden dürfen. Jede Trennung würde ein Schwächung des Parlaments bedeuten. Das scheint immerhin Konsens zu sein. Schließlich darf es bei der Hauptstadtfrage nicht um regionale Strukturpolitik gehen. Es ist und muß sein ein Akt symbolischer Politik, eine Antwort auf die Wirklichkeit des vereinten Deutschlands. Faule Kompromisse hätten da auch eine symbolische Qualität. Wenn man Berlin mit Institutionen nur deswegen auffüttert — wie es Waigel fordert —, um den Eindruck von „Etikettenschwindel“ zu vermeiden, sollte man besser auf die Hauptstadt Berlin verzichten. Klaus Hartung