„Es kommen immer mehr Sozialfälle“

■ Medizinische Versorgung ist für PalästinenserInnen auch in der Westbank und im Gaza-Streifen nicht mehr gewährleistet

Die während des Golfkriegs über die Westbank und den Gazastreifen verhängte 46tägige Ausgangssperre steigerte die Leiden der ohnehin drangsalierten palästinensischen Bevölkerung. Ein besonderes Problem stellte der fast völlige Zusammenbruch der medizinischen Versorgung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten dar. Die taz sprach mit Dr. Ruhama Marton von der „Association of Israeli-Palestinian Physicians for Human Rights“ (AIPPHR) und Dr. Odeh Abu Nahleh als Vertreter der in den besetzten Gebieten tätigen „Medical Relief Committees“.

taz: Bereits Ende Januar wiesen israelische und palästinensische ÄrztInnen anhand eines detaillierten Reports den Zusammenbruch des Gesundheitswesens in den von Israel besetzten und unter Ausgangssperre stehenden Gebieten nach. Wie sieht die Situation heute aus?

Dr. Abu Nahleh: Die katastrophale ökonomische Lage in den besetzten Gebieten hat schwerwiegende Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung. Die Leute haben keinen Verdienst mehr und folglich kein Geld, um ärztliche Untersuchungen oder Arzneimittel zu bezahlen. So kommen Kranke erst zur Untersuchung, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist.

Den medizinischen Einrichtungen fehlt es an Geld, vor allem den Wohltätigkeitsorganisationen. Es kommen immer mehr Leute, die kein Geld für die Untersuchung und Behandlung aufbringen können. In unserer Organisation stiegen solche 'Sozialfälle‘ von sieben auf 40 Prozent. Die wenigsten PalästinenserInnen sind heute krankenversichert. Die Leute dürfen ja nicht mehr innerhalb Israels arbeiten, was die Arbeitslosigkeit immens ansteigen ließ (auf ca. 70 Prozent). Der fehlende Arbeitsplatz bedeutet natürlich auch den Verlust der Krankenversicherung durch den Arbeitgeber.

Muß man davon ausgehen, daß mehr und mehr Menschen in der Westbank und im Gaza-Streifen hungern bzw. unterernährt sind?

Dr. Marton: Nach dem Ende der Ausgangsperre stellten wir fest, daß das Problem weniger der Hunger als vielmehr das Fehlen bestimmter Nahrungsmittel ist. In vielen ärmeren Orten können vor allem Babys nicht adäquat ernährt werden. Mit Hilfe von Spenden, überwiegend aus den USA, konnten wir Babynahrung an diesen Orten verteilen. Die meisten Bewohner des Ortes Quafin zum Beispiel arbeiteten früher innerhalb Israels. Die Landwirtschaft dort gibt nicht viel her. Jetzt sind 80 bis 90 Prozent der BewohnerInnen arbeitslos und nicht in der Lage, sich und ihre Familien zu ernähren.

Ich möchte betonen, daß diese Verteilungsaktionen nicht als Wohltätigkeit, sondern als ein Akt der Solidarität zu verstehen sind. Wir denken, daß die Situation in den besetzten Gebieten eine politische ist und demonstrieren mit unserer Aktion gegen diese Politik, die die Menschen im Gaza-Streifen und Westbank daran hindert, zu arbeiten und sich selbst zu versorgen.

Von palästinensischen ÄrztInnen und anderen Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, gab es immmer wieder Beschwerden darüber, daß sie von der Okkupationsmacht an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert würden. Trifft dies immer noch zu?

Dr. Marton: Ja. Unsere Organisation rief deshalb kürzlich den israelischen Obersten Gerichtshof an. Wir stellten einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung an den Kommandierenden der Region Westbank und den des Gaza-Streifens. Dieser Erlaß sollte den Betrieb medizinischer Einrichtungen in den besetzten Gebieten, das Recht auf freie Bewegung aller im Gesundheitswesen Tätigen sowie die schnelle Durchführung von Krankentransporten gewährleisten. Das hohe Gericht entschied in diesem Fall für uns.

Es sollten Anweisungen direkt an die zuständigen Militärs und Autoritäten ergehen, aber es ist in den seltensten Fällen wirklich erfolgt. Noch immer werden Ärzte an den Straßensperren an der Weiterfahrt zu ihrem Arbeitsplatz gehindert. Es sind auch eine Reihe von ÄrztInnen in Administrativhaft. Gegen diese ÄrztInnen gab es weder eine Anklage, noch gab es je eine Gerichtsverhandlung, aber sie werden einfach bis zu einem Jahr gefangengehalten.

Zur Zeit setzen wir uns als AIPPHR für die Freilassung von zwei Ärzten aus der Administrativhaft ein: Dr. Peter Qumaris, der am 15.Januar, und Dr. Muhammad Jahgi, der einen Tag nach einem Treffen mit unserer Organisation gefangengenommen wurde.

Dr. Abu Nahleh: Viele MedizinerInnen erhielten von den israelischen Autoritäten die „green card“.

Was bedeutet das?

Dr. Marton: Es gibt jetzt für die BewohnerInnen der besetzten Gebiete zwei Arten von Personalausweisen: die orange Karte — als normaler Personalausweis — und die grüne, die einem, so heißt es, bei politischer Aktivität gegeben wird. Für BesitzerInnen solcher „green cards“ ist es nicht erlaubt, sich innerhalb Israels zu bewegen. Interview: Katrin Martens