»Das Pony vom ersten Stock«

■ Kinderfilm des Monats Juni

Reike ist ein aufgewecktes zehnjähriges Mädchen mit dicker Brille und wippendem Zopf. Sie lebt mit ihrem Vater in einer tristen Kopenhagener Hinterhofwohnung. Der Blick aus dem Fenster fällt auf verwitterte Ziegelsteinmauern und kleine verhangene Fenster. Nur die Wiese zwischen den Betonfesten ist der einzige Lichtblick in dieser bedrückenden Enge.

Reike vermißt ihre Mutter, die vor einem Jahr starb und eine Leere hinterließ, die schwer aufzufüllen ist. So bleiben nur die Tagträume, um über den zähen Alltag hinwegzukommen und die Schwermütigkeit zu vertreiben. Jeden Morgen starrt Reike, allein beim Frühstück sitzend, die Cornflakesschachtel an, auf der ein Foto von einem kleinen, weißgefleckten Pony prangt. »Preisausschreiben« steht darüber, und »zu gewinnen«. Wäre das schön, mit dem kleinen Pferd dahin zu galoppieren über Stock und Stein, über blühende Wiesen, gemeinsam mit den Eltern Ausflüge zu machen, immer der Sonne entgegen, die alles mit ihrem Strahlenglanz verzieren würde. Regelmäßig vergißt Reike über derartigen Träumereien die Zeit; die Stunde hat längst begonnen, wenn sie das Klassenzimmer betritt. »Ich mußte noch mein Pferd füttern«, sagt sie dann oft unter dem Gelächter der Klasse.

Eines Tages füllt sie den Werbezettel aus, steckt ihn verschämt in den Briefkasten und hat die ganze Sache bald vergessen. Doch plötzlich bringt der Postbote statt eines Briefes ein handfestes Pony in einem Sattelschlepper, adressiert an Fräulein Reike. Die kann es gar nicht fassen, so viel Glück zu haben. Aber warum auch nicht, denkt sie dabei, der Vater hatte es versprochen, irgendwann, abends, als er mal wieder vor dem Fernseher saß und lieber Fußball sah, als sich mit seiner Tochter zu unterhalten. Ich will es haben, hatte sie geschrien und energisch mit dem Fuß gestampft.

So beginnt die Geschichte vom Pony im 1. Stock, das eigentlich auf eine Weide und nicht in den Mief und die Enge einer Großstadt gehört.

Erst sträubt sich natürlich Reikes Vater mächtig gegen den Vierbeiner mit der seidigen Mähne und den samtigen Augen, doch als ein wohlgesonnener Nachbar seine ausgediente Fabriketage anbietet, ist das die Lösung. Etwas Stroh und Haferkorn und fertig ist der improvisierte Stall.

Und siehe da, das Pony belebt den Hinterhof enorm. Klassenkameraden wollen reiten, jeder von ihnen ein Asphaltcowboy sein. Eine großzügige Koppel wird zwischen die Häuserwände gebaut, und sogar Ludwig, der ewig besoffene Penner, tauscht die Pulle Schnaps gegen eine Heugabel ein. Er wird zum Reitlehrer und Stallwächter befördert und tauft das Minipferd auf den Namen Donald. Die skeptische Lehrerin, die eigentlich mit dem Vater über Reikes ständiges Zuspätkommen reden will, entdeckt urplötzlich, wie einsam sie ist inmitten der quirligen Kinder. Nach anfänglicher Scheu vor Pferd und Vater erfaßt sie zu beiden eine tiefe Zuneigung.

So entwickelt sich der Film eher zu einer umfassenden Beziehungskiste, in der alle möglichen Zweierkombinationen geboren werden: Reike ist vernarrt in Pony Donald, der Vater in die Paukerin Charlotte, die die Gefühle erwidert, Ludwig, der Ex-Penner, freundet sich mit dem sonst so kauzigen Uhrmacher an, der mit seinem tuckernden Motorrollstuhl dauernd durch die Gegend braust, wenn er nicht gerade besoffen ist.

»Das Pony vom ersten Stock« wäre natürlich kein typischer Kinderfilm, wenn er nicht einen optimistischen Ausgang hätte. Doch bevor es dazu kommt, müssen noch jede Menge Abenteuer bestanden und zahlreiche Probleme gelöst weren.

Am Schluß wird klar: Das Pferd hat das Leben der Menschen verändert. Es hat ihnen die Augen geöffnet für ihre Gefühle und Wünsche, es hat sie näher zueinandergebracht und Sympathien geweckt. Donald wurde zu Pegasos, dem geflügelten Hengst aus der Sagenwelt, der über ungeahnte Zauberkräfte verfügt. Seine Kraft ist so groß, daß er Verstorbene aus dem Totenreich zurückholen, den Frühling rufen und Blumen blühen lassen kann. Wenn die Hufe von Pegasos den Boden berühren, entspringen der Erde glasklare Bäche und farbenprächtige Pflanzen.

Regisseur Eric Clausen ist kein Unbekannter auf dem Filmmarkt. Viele seiner Produktionen wurden international prämiiert, und das Pony wurde sogar die Nummer Eins der »Top Ten« 1989 der Kinderfilme in Europa.

Dieser dänische Film zeichnet sich vor allem durch die ungezwungene Darstellung der Kinder aus. Und das kommt so: Clausen läßt seine kleinen Schauspieler frei vor der Kamera spielen, indem er ihnen keinerlei Vorgaben macht. Die Dialoge sollen so spontan wie möglich sein, ohne Zensur durch die Erwachsenen. So läßt Clausen die Kamera oft noch laufen, wenn die Kinder schon aufgehört haben zu spielen. Dadurch werden Bilder eingefangen, die einen halbdokumentarischen Charakter haben. Die Kids sind die eigentlichen Stars und Macher des Films, die den Erwachsenen die Welt mit ihren Augen zeigen. Daß es dabei zu Konfrontationen und Problemen kommt, ist eigentlich klar.

Das Thema im »Pony vom ersten Stock« ist nicht das Pferd selbst, sondern das, was es bewirkt. Ohne Sentimentalität wird hier eine Geschichte erzählt, die vom Zusammenleben von Groß und Klein handelt, ganz in unserer Nähe. Benjamin B.