Klezmer-Alternative

■ »Brave Old World« im Tempodrom

Merkwürdige Zufälle gibt es in der Klezmerei. Während der Leiter der Jüdischen Kulturtage, Dan Lahav, im Kammermusiksaal wieder einmal die »hinreißendsten Klezmergruppen« präsentierte (und sich dabei nicht entblödete, dasselbe Programm und dieselben mittelmäßigen Gruppen wie beim letzten Jahr zu servieren), spielte am Mittwoch eine der besten Klezmergruppen der Welt, Brave Old World, vor einem 100köpfigen Insiderpublikum im kleinen Zelt im Tempodrom. Eine »Record- Release-Party« wollten sie geben — oder ein »Plattenbefreiungsfest«, wie es der New Yorker Joel Rubin übersetzte. Zwar präsentierten der Klarinettist Rubin, der Akkordeonist Alan Bern, der Geiger und Sänger Michael Alpert und der Allesspieler Stuart Brotman (Trommel, Baß, Trompete, Xylophon) auf der »befreiten Platte« einige schon bekannte Stücke, aber das tat dem Konzert keinen Abbruch.

»Wir sind gerade aus Polen gekommen — dem Land, wo unsere Musik herstammt, und es hatte eine große Bedeutung für uns, in Krakau zu spielen«, sagte Joel Rubin. Es war das erste Mal überhaupt, daß Brave Old World ihre ostjüdische Musik wieder an ihren Ursprungsort zurückbringen konnten. »2.000 Leute haben uns zugehört, haben getanzt und waren begeistert, und es tat gut zu spüren, daß diese Musik ein Teil der polnischen Kultur ist — und daß die Leute das begreifen.« Aber Rubins Freude ist nicht ungetrübt: »Es war seltsam, in Krakau zu spielen. Früher wohnten dort 75.000 Juden. Heute ist Krakau ‘judenrein‚.« Die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes ist immer präsent, wenn Brave Old World auftreten, aber weder auf aufdringliche noch auf sentimentale Weise. Und genau so, wie die ostjüdische Musik im letzten Jahr zwischen Melancholie und freudiger Tanzstimmung schwankte, so zeigt Alan Berg in seinem Akkordeonsolo, das »die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der zur zaristischen Armee eingezogen wird und im Zug ein Abenteuer erlebt«, alle Facetten menschlicher Empfindungen. Er spielt sein Instrument, als ob es eine lebende Person wäre: von ganz zart leise bis plötzlich hart und brutal; bis das Klappern der Finger auf den Tasten das Rattern und Rollen des Zuges wiedergibt.

Joel Rubins Klarinette jagte dem Publikum die Tanzlust in die Glieder, und der Witz der vier Musiker — wenn sie nicht zuviel Jiddisch sprachen — kam an: Joel Rubin hält eine Lobrede auf Naftule Brantwein, einen der Urväter des Klezmer, Michael Alpert wendet die Augen gen Himmel: »...die ganze Nacht hab' ich an ihn gedacht«, Rubin schwärmt weiter: »Er spielte mit seinem ganzen Herzen...« Das Publikum lacht, und Rubin versichert: »Aber nicht nur mit dem Herzen!« und trommelt mit den Fingern auf der Klarinette herum. Mit dem Herzen, aber nicht nur. So könnte man das Rezept von Brave Old World beschreiben.

»Ich verstehe nicht, was sich der Leiter der Jüdischen Kulturtage unter jüdischer Kultur vorstellt«, sagte einer der Musiker später. »Hauptsache, es sind Juden beteiligt? Und wenn nicht, ist es auch egal?« Stuart Brotman jedenfalls erntete Zustimmung beim Publikum, als er in Parodie auf Dan Lahavs Klezmer-Marathon verkündete: »Welcome to the alternative Klezmer Marathon. Those who are here know they are in the right place.« Ayala Goldmann