KURZESSAY
: „Und was ist mit der Dritten Welt?“

■ Lateinamerikanische Notizen

Die Dritte Welt ist zum Gemeinplatz verkommen. Der Hinweis auf Armut und Unterentwicklung dient einer unter Rechtfertigungsdruck geratenen Linken als abrufbares Zitat, ein Totschlagsargument, das, wie die rhetorische Beschwörung des Faschismus, jede Gegenrede zum Schweigen bringt. Der Diskurs über das Elend der Dritten Welt ist die letzte Klammer, die das zerfallende Lager der Linken künstlich zusammenhält. Auch wenn sie sonst nichts mehr miteinander verbindet: Der gerechte Zorn über die Ausplünderung der armen durch die reichen Nationen eint Fundis und Realos, Jungsozialisten und Altachtundsechziger, Friedensbewegung und RAF. Selbst die PDS, die früher, als sie noch SED hieß, Mao und Che Guevara als linksradikale Sektierer verdammte, hat heute die Solidarität mit der Dritten Welt auf ihre Fahnen geschrieben, ebenso wie SPD, Kirchen und Gewerkschaften.

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Damit nicht alles falsch wird, muß ich an dieser Stelle eine Einschränkung machen: Es geht mir nicht darum, die Verelendung der Dritten Welt zu bagatellisieren — im Gegenteil: Ich habe großen Respekt vor all denen, die sich aktiv vor Ort engagieren, aus welchen persönlichen oder politischen, weltanschaulichen oder religiösen Motiven auch immer. Aber ich habe etwas gegen einen aus Fertigteilen zusammengesetzten Diskurs über die Dritte Welt, der nur noch seine eigene Unverbindlichkeit bezeugt und vor allem der Bestätigung des eigenen, fortschrittlichen Standpunkts dient. Dieser Diskurs verpflichtet seine Sprecher zu gar nichts, schon gar nicht zu praktischer Hilfe, für die sie nur Spott und Verachtung übrig haben, weil Entwicklungshilfe bekanntlich eine besonders raffinierte Form der Ausbeutung ist, und weil Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter eh nur an den Symptomen der Unterentwicklung herumkurieren. Das gilt auch für Touristen, die, wie neulich in der taz zu lesen war, angeblich das moderne Äquivalent der Kolonialherrschaft darstellen; sie gehen auf Foto-Safari anstatt auf Großwildjagd. So weit kann die Logik auf den Hund kommen!

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Kein Wunder, daß die Leute mit dem großen Durchblick, anstatt sich an Ort und Stelle über die Ursachen der Unterentwicklung zu informieren (was im Zeitalter des Jet-Tourismus nicht mehr allzu schwierig ist), lieber am Biertisch über das Elend der Dritten Welt lamentieren: Ihre ideologisch getrübte Sicht wird durch keinen Augenschein irritiert. Dabei könnten sie in jedem beliebigen Land Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas die zugleich irritierende und beglückende Erfahrung machen, daß sich ihre von zu Hause mitgebrachten Gewißheiten bei der Konfrontation mit der fremden Wirklichkeit zu fast Nichts verflüchtigen. An Stelle der Weltbank, des US-Imperialismus oder der Nord-Süd-Kommission der EG rückt die Korruption der einheimischen Eliten in den Blick; und es zeigt sich, daß die Völker der Dritten Welt, nicht anders als die Europas, Geiseln ihrer durch fremde und eigene Schuld vermurksten Geschichte sind, deren Fehlentwicklungen sich nicht auf eine einzige Ursache namens Kolonialismus oder Imperialismus zurückführen lassen. Selbst die heroischsten Ausbruchsversuche, sprich Revolutionen, endeten deshalb als Bauchlandung — siehe Äthiopien oder Angola, Kuba oder Nicaragua, Kambodscha oder Vietnam.

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Der Diskurs über die Dritte Welt ruht auf einem marxistischen Fundament, das zusammen mit dem dazugehörigen Überbau schon lange brüchig geworden ist: Lenins Theorie des „Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus“ (1916) und Mao Zedongs These von der Internationalisierung des Klassenkampfs (1966), derzufolge die armen Nationen, wie die Proletarier des 19.Jahrhunderts außer ihren Ketten nichts zu verlieren hätten: „Die Welt-Dörfer rüsten zum Sturm auf die Welt-Städte!“ Dieser Slogan aus der Kulturrevolution, mit dem sich die Volksrepublik China im Propagandakrieg gegen die Sowjetunion an die Spitze der Blockfreien zu stellen versuchte, brachte damals einen wichtigen Erkenntnisschub: Er machte die historischen Gemeinsamkeiten sichtbar, die trotz aller politischen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede die in neokolonialer Abhängigkeit gehaltenen Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas miteinander verband. Heute, wo nicht nur Jugoslawien, sondern auch Indien und Äthiopien unter dem Druck ethnischer und religiöser Gegensätze zu zerbrechen drohen, tritt das Trennende immer deutlicher hervor. Die Einheit der Dritten Welt steht, wie die Afrikas oder Asiens, ohnehin nur auf dem Papier; sie war nie viel mehr als ein frommer Wunsch, der periodisch auf internationalen Konferenzen beschworen wurde — zu tiefgreifend sind die Differenzen und Divergenzen zwischen sogenannten „Schwellenländern“ wie Chile, Argentinien oder Brasilien und Habenichtsen wie Bolivien oder Haiti, die heute zur vierten oder fünften Welt gerechnet werden.

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Die Rede von der Dritten Welt gleicht einem Flickenteppich oder einem durch langes Tragen zerschlissenen Anzug, der niemandem mehr paßt. Third World Watchers haben sie längst auch in Europa geortet, im Süden Italiens ebenso wie im Osten Deutschlands, das nach der Demontage des realen Sozialismus Gefahr läuft, auf den Status einer Kolonie abzusinken; gleichzeitig sind „klassische“ Kolonialgebiete wie Südafrika, Südkorea oder Chile nur noch bedingt der Dritten Welt zuzurechnen — von Japan ganz zu schweigen. Vielleicht ist es an der Zeit, Abschied zu nehmen von einem Begriff, der so schillernd und vielsagend geworden ist, daß er alles und nichts mehr bedeutet. Wir leben in einer Welt, deren Pobleme, wenn überhaupt, nur pragmatisch gelöst werden können. Die miteinander konkurrierenden Heilslehren aus der Zeit des Kalten Krieges haben gründlich versagt: Die von der Weltbank verordnete Radikalkur zur Sanierung der Dritten Welt scheiterte ebenso kläglich wie die Patentrezepte der marxistischen Revolution: Beide haben den kritischen Zustand des Patienten noch verschlimmert.

„Im Kapitalismus waren die Regale voll“, sagte mir kürzlich ein kubanischer Intellektueller, der beide Systeme am eigenen Leib erlebt hat: „Es gab Waren, aber wir hatten kein Geld, um sie zu kaufen. Im Sozialismus hatten wir Geld, aber die Regale waren leer; inzwischen sind auch die Regale fort.“

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Die Dritte Welt für den Hausgebrauch, als Vademecum für das gute oder schlechte Gewissen der Linken, hat ausgedient. Nach dem Absturz aus den Wolkenkuckucksheimen der Utopie ist Bescheidenheit angesagt. Es gilt, Abschied zu nehmen von der fatalen deutschen Tradition des Alles oder Nichts, die, anstatt nach Teillösungen zu suchen, lieber das Kind mit dem Bade ausschüttet und tabula rasa macht. Anstatt auf Talkshows Krokodilstränen zu vergießen für die Opfer der Apartheid in Südafrika, sollten Gregor Gysi und Jutta Ditfurth gemeinsam dafür sorgen, daß Gastarbeiter und Austauschstudenten aus Angola und Mocambique in Leipzig und Dresden die Straßenbahn benutzen können, ohne dabei ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Hans Christoph Buch