: Ordnung herrscht in Algier
■ Algeriens Präsident Chadli geht hart gegen die Opposition vor/ Armee erhält weitreichende Vollmachten zur Inhaftierung mißliebiger Bürger/ Ausnahmezustand soll für vier Monate gelten
Algier (afp/ap/dpa/taz) — Ratlosigkeit und Angst herrschen in Algerien, nachdem Präsident Chadli Bendjedid in der Nacht zum Donnerstag der algerischen Armee weitreichende Vollmachten übertragen, die Bürgerrechte suspendiert und jegliche oppositionelle Tätigkeit auf der Straße praktisch verboten hat. Die Maßnahmen, von Chadli in einer nächtlichen Fernsehansprache verkündet, ermächtigen die Armee, Versammlungen und Publikationen zu verbieten, die die „öffentliche Ordnung“ stören könnten; sie kann Menschen in „Verwaltungshaft“ nehmen oder unter Hausarrest stellen; sie kann jederzeit Hausdurchsuchungen vornehmen; sie kann Streiks verbieten. Die Polizei wird unter die Befehlsgewalt der Armee gestellt. Alle öffentlichen Versammlungen sind verboten. In Algier und den Departments Blida, Boumerdes und Tipasa gilt zwischen Mitternacht und halb vier Uhr morgens eine Ausgangssperre.
Weiter verkündete Präsident Chadli, der am Mittwoch verhängte Ausnahmezustand solle vier Monate in Kraft bleiben. Die ursprünglich auf den 27. Juni angesetzten Wahlen werden nun wohl frühestens im Herbst stattfinden können.
Psychologisch zeigte Chadlis harte Linie Erfolg. Die Straßen Algiers und anderer Städte blieben gestern weitgehend leer. Noch am Abend zuvor waren in der Stadt Souk Ahres nahe der tunesischen Grenze zwei Menschen erschossen worden, als die Armee eine Demonstration auflöste. Nun aber sind die Proteste versiegt. Die Erinnerung an den Oktober 1988, als 500 Menschen von der Armee bei der Niederschlagung von Demonstrationen erschossen wurden, ist noch zu frisch.
Nach Einschätzung von Beobachtern ist das harte Vorgehen der Regierung, das der tatsächlichen Stärke der Protestbewegung unangemessen ist, ein Anzeichen dafür, daß die regierende FLN schon lange nach einem Vorwand zur Absage der Wahlen gesucht hat. Noch am Sonntag hatte Präsident Chadli angesichts erster Demonstrationen erklärt, die Wahlen würden trotz der „Agitation“ fristgemäß durchgeführt werden, und sogar die alte FIS-Forderung nach einer Präsidentenwahl wird nicht mehr grundsätzlich abgelehnt. Am Montag gewährte der IWF Algerien einen Stand-By-Kredit über 410 Millionen Dollar, mit der Option auf weitere 280 Millionen, falls sich die algerische Zahlungsbilanz verschlechtern sollte. Am Dienstag früh begann die algerische Polizei dann, Demonstranten der fundamentalistischen „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) von öffentlichen Plätzen zu räumen.
Die FIS, die die Regierung zu der gegenwärtigen Kraftprobe herausgefordert hatte, berät nun über ihr weiteres Vorgehen. Noch am Mittwoch nachmittag hatte sie angesichts der getöteten „Märtyrer“ von „Sieg“ gesprochen und an ihre Anhänger appelliert, den seit 23. Mai ausgerufenen und bisher wenig befolgten Generalstreik fortzusetzen. Gestern warnte die FIS jedoch davor, die Armee zu provozieren. Öffentliche Versammlungen sollten nur dann abgehalten werden, „wenn dies möglich ist“. Gestern nachmittag stellte die FIS-Stadtverwaltung in Algier Tafeln mit den Namen derjenigen auf, die bei den Demonstrationen getötet worden waren. Mehrere hundert Menschen versammelten sich vor diesen Tafeln unter den Augen nervöser Soldaten.
Gestern ernannte Chadli seinen ehemaligen Außenminister Sid Ahmed Ghozali zum neuen Premierminister Algeriens. Er nahm sofort mit der Führung der regierenden „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN) Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung auf.
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