ZUHAUSE DOCH FREMD
: Weiter wurschteln statt Vordenken

Westeuropa ist längst zur Einwanderungsregion geworden – nur will es niemand wahrhaben. Die Europäische Gemeinschaft überläßt die Migrationspolitik den nationalen Regierungen und geheim tagenden Zirkeln.  ■ Von Dorothea Hahn

„Visionäre eines geeinten Europas“ werden die Gründer der Europäischen Gemeinschaft gelegentlich genannt. Doch was jetzt auf ihre EG zukommt, haben sie nicht vorausgesehen: Die neue Reisefreiheit im Osten des Kontinents, gekoppelt mit der rasanten Verschlechterung der Lebensbedingungen im Norden Afrikas könnten dem Binnenmarkt, noch bevor er realisiert ist, Millionen von unerwarteten Zuwanderern bescheren. Anstatt jedoch eine zusammenhängende politische Antwort zu geben, reagiert die EG mit Panik und einem Flickwerk von Hilfsmaßnahmen. Entwürfe für eine Migrationspolitik sucht man in Brüssel vergebens. Die Öffnung im Osten hat die EG kalt erwischt. Sie plante ihr Projekt „Binnenmarkt“ noch zur Zeit des Eisernen Vorhangs, als die Ost-West-Grenze dicht war.

Erst in den vergangenen drei Jahren änderen sich die Verhältnisse radikal. Migranten und Flüchtlinge hatten daran einen wesentlichen Anteil. Allein 1989 wanderten 1,3 Millionen Menschen aus Osteuropa in den Westen. Seither ist diese größte europäische Bevölkerungsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr abgerissen. Inzwischen besteht in den meisten der ehemals sozialistischen Länder die Reisefreiheit. Als letzte hat jetzt auch die Sowjetregierung beschlossen, die mehr als 60 Jahre gültigen Restruiktionen aufzuheben.

Der Termin zu dem die 288 Millionen Sowjetmenschen sich in Bewegung setzen dürfen, der 1. Januar 1993, fällt zusammen mit einem anderen historischen Datum. An just dem Tag will die EG den „Europäischen Binnenmarkt“ einläuten. Er soll offene Grenzen nicht nur für Kapital und Dienstleistungen, sondern auch für Menschen schaffen. Daß das „Europa ohne Grenzen“ preist, endet bereits an den Außengrenzen seiner zwölf Mitgliedsländer endet, wird erst mit der Öffnung im Osten in vollem Ausmaß deutlich. Während die knapp 340 Millionen EG-Bürger ab Anfang 1993 relativ unbegrenzt innerhalb der EG reisen können, werden Drittstaatler – auch wenn sie Europäer sind – weiterhin als Ausländer betrachtet. Selbst für Ausländer aus Drittstaaten, die bereits in der EG leben, gilt die Einschränkung.

Auf die dynamische Entwicklung im Osten reagiert die EG mit Beharren auf Altbewährtem. Weder wurde das Binnenmarktkonzept modifiziert, noch will die EG neue Mitglieder aufnehmen. Die Gemeinschaft, so das Gebot in Brüssel, muß sich jetzt konsolidieren, erst danach könne sie sich verbreitern. Die beitrittswilligen neuen Demokratien in Osteuropa sollen in der Zwischenzeit mit Assoziierungsverträgen ruhiggestellt werden.

Bald könnten bewaffnet patroullierende EG-Grenzer zur Normalität werden

Die Großzügigkeit endet da, wo die Interessen der Wanderwilligen beginnen. Die Bürger der meisten osteuropäischen und aller nordafrikanischen Länder müssen Visa haben, wenn sie legal in die EG einreisen wollen. Die völlige Abstimmung der Visum- und Asylpolitik der Mitgliedsländer steht weiterhin ganz oben auf der Prioritätenliste der EG. Praktiziert wird das jetzt schon von den sechs EG-Kernländern, die das Schengener-Abkommen unterzeichnet haben (siehe Kasten). Damit soll eine generell Kontrolle über die Einreise in das Territorium der EG geschaffen werden. Vereinheitlicht – und zwar von denselben hinter verschlossenen Türen tagenden Arbeitsgruppen – wird auch die Drogenfahndung sowie der Kampf gegen den Terrorismus.

Darüber, wie die EG ihre künftig gemeinsamen Außengrenzen sichern kann, wird seit Ende vergangenen Jahres bei der Regierungskonferenz über die Politische Union verhandelt. Über Migranten, die unerlaubt in die EG drängen, wird dabei unter dem Stichwort „Sicherheitspolitik“ debattiert. Die bisherigen Grenzsicherungsmaßnahmen einzelner EG- Mitgliedsländer und der mittelosteuropäischen Länder Polen, Ungarn und CSF läßt befürchten, daß ohne eine Migrationspolitik künftig verstärkt bewaffnete Grenzer Fremde von Westeuropa ferngehalten sollen.

Für Ausländer aus Drittstaaten (Nicht-EG-Mitgliedsländer), die bereits in einem Land der EG leben, ist die Gemeinschaft nicht zuständig. Sie unterliegen der jeweils nationalen Ausländerpolitik und Ausländergesetzgebung. Spezifische Ausländerrechte hat weder die EG noch die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates definiert. Daraus ergeben sich Daraus ergeben sich Ungereimtheiten wie die völlig unterschiedlichen nationalen Bestimmungen über Familienzusammenführungen, Einbürgerungen und die Vergabe von Arbeitserlaubnissen. Ergebnis der EG-Abstinenz in Sachen Ausländerpolitik ist auch, daß Ausländer aus allen Ländern in Dänemark, Irland und den Niederlanden nach einer längeren Aufenthaltszeit im Land das kommunale Wahlrecht erhalten, während in Deutschland das Verfassungsgericht gegen das Ausländerwahlrecht eingeschritten ist. Die EG bleibt in ihren Vorschlägen weit hinter der Politik ihrer aufgeschlosseneren Mitgliedsländer zurück.

Fehlendes EG-Instrumentarium zum Umgang mit politischer Migration

Gemeinsam ist der Ausländerpolitik in den einzelnen EG-Mitgliedsländern, daß sie innenpolitisch zunehmend starke Reaktionen provoziert. Gab es vor 40 Jahren, als die ersten Arbeiter in Südeuropa angeworben wurden, noch kaum Einwände, so gehört heute Fremdenfeindlichkeit in vielen EG-Ländern zum Alltag. Wahlerfolge rechtsextremer Parteien und das brutale Auftreten von Schlägertrupps sind ein europäisches Phänomen geworden. Die Regierungen der EG-Mitgliedsländer verbindet eine diffuse Angst vor zusätzlichen Fremden, die sich in gewagten Spekulationen über bis zu 25 Millionen Migranten allein aus Osteuropa noch vor Ende dieses Jahrzehnts Luft macht. Dabei gibt es innerhalb der EG unterschiedliche historisch gewachsene Verpflichtungsgefühle gegenüber Migranten. Die nördlichen Mitgliedsländer – allen voran die Bundesrepublik – wollen die Tür eher für die „Miteuropäer“ aus dem Osten aufmachen. Die Südeuropäer – einschließlich Frankreich – fühlen sich stärker ihren nordafrikanischen Nachbarnverpflichtet fühlen, als den Nordafrikanischen Nachbarn verpflichtet.

Zum politischen Umgang mit den Migranten stellt die EG kein anderes Instrumentarium zur Verfügung, als die 40 Jahre alten Genfer Flüchtlingskonvention, die alle EG-Mitgliedsländer unterzeichnet haben. Die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entstandene Konvention ist für Menschen, die individuell verfolgt werden, nach wie vor unverzichtbar. Und das lang erkämpfte Recht auf politisches Asyl muß auch in Zukunft, unabhängig von allen anderen Wanderungsbewegungen gewährt werden. Aber im Fall der meisten Osteuropäer und Nordafrikaner ist die Flüchtlingskonvention falsch angewandt und nutzlos. Denn die meisten Neuankömmlinge können „nur“ nachweisen, daß die wirtschaftliche und politische Situation in ihrer Heimat desolat ist, ihre Emigration insofern erzwungen war. Auf eine Anerkennung als Flüchtling und das Bleiberecht in Westeuropa können sie mit dieser Erklärung aber nicht hoffen. Noch nicht einmal eine Definition hat die internationale Gemeinschaft für das rasant wachsenden Phänome der „erzwungenen Emigration“ gefunden. Der Einfachheit halber werden die Neuankömmlinge als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert, ein Kampfbegriff, der den besonderen Bedürfnisse von Menschen, die in ihrem Land kein Auskommen finden, nicht im geringsten gerecht wird.

Eine multinationale Migrationsbehörde könnte Wanderströme beeinflussen

Weit entfernt ist die EG von der Schaffung eines Intrumentariums für den Umgang mit Migranten. Ein international besetztes und kontrolliertes Gremien könnte den Anfang machen. Eine Migartionsbehörde – besetzt mit Vertretern von Abwander- und Aufnahmeländern – müßte mit der Kompetenz ausgestattet sein, Wanderungsrichtungen zu bestimmen und dazu die Situation in den Abwander- und in den Aufnahmeländern beobachten. Sie müßte den Informationsfluß für alle Seiten sicherstellen und vermeiden, daß durch die Migration keine neuen Härten in den Abwander- oder Aufnahmeländern entstehen.

Migranten würde damit der Weg erleichtert. Sie könnten vor ihrer Abwanderung planen, wohin die Reise geht, und ihnen bliebe erspart, an Grenzen wie Aussätzige angewiesen zu werden oder irgendwo als „illegale Ausländer“ zu stranden. Aber auch die Aufnahmeländer könnten sich auf kontrollierbare und planbare Zahlen von Migranten einstellen. Dabei wäre es den Aufnahmeländern durchaus möglich, mit einer Migrationsbehörde Wanderungsströme dorthin zu lenken, wo sie wirtschaftlich sinnvoll sind: zum Beiuspiel in industrielle Ballungszentren, mit besonders alter Bevölkerung und Nachwuchsmangel auf dem Arbeitsmarkt. Allerdings sollte sich die EG nicht der Illusion hingeben, daß Arbeitskräfte kurzfristig eingesetzt und anschließend wieder zurückgeschickt werden können (Rotationsverfahren). Menschen, die einmal ihre Heimat verlassen haben, kehren oft nicht mehr dorthin zurück, auch wenn sie selbst einen Rückkehrtraum hegen. Nicht zuletzt wäre mit einer von einer internationalen Behörde kontrollierten Migration auch den rund um die EG liegenden europäischen Ländern gedient. Diese Länder – darunter die jungen Demokratien Polen, Ungarn und die CSFR müssen unter derzeit fürchten, daß sie zum Auffanglager für abgewiesene Migranten werden.

Wenn sie nur wollte, könnte die EG in Migrationsfragen auf den Erfahrungen anderer Einwanderungsländer, wie der USA, Kanadas und Australiens, aufbauen. Diese Länder wenden Auswahlverfahren an, bei denen sie Quoten, Punkte, Ausgleichskategorien oder Kontingente in Bezug auf die Nationalität, die berufliche Qualifikation und die Immigrationsgründe festlegen. Lernen könnte die EG anhand der amerikanischen Erfahrungen allerdings auch, daß illegale Einwanderung selbst mit einer ausgefeilten Kombination von Migrationspolitik und Grenzsicherung nicht zu vermeiden ist. Voraussetzung für derartige Überlegungen wäre allerdings, daß die EG ein seit Jahrzehnten überfälliges Eingeständnis leistet: Westeuropa ist längst zu einer Einwanderungsregion geworden. Die mehr als acht Millionen Menschen aus Drittstaaten, die zum großen Teil seit mehreren Jahrzehnten in der EG leben und arbeiten machen das deutlich.

Unabhängig davon, was die EG tut, werden sich in den nächsten Jahren Bevölkerungsbewegungen auf dem europäischen Kontinent abspielen, wie es sie seit Kriegsende nicht mehr gegeben hat. Dabei ist die EG im Dilemma: Wenn sie ihre Einreisebestimmungen verschärft, wird nach aller Erfahrung die illegale Immigration zunehmen. Das zeigen die Beispiele Frankeich und Italien, wo eine restriktive Ausländerpolitik in den 70er Jahren die Zahlen rasant steigen ließ. Selbst wenn die EG gezielt Entwicklungshilfe an Auswandererländer leistet, muß sie davon ausgehen, daß die nötigen Umstrukturierungsprozesse zunächst einmal „Arbeitskräfte freisetzen“, denen vielleicht nichts anderes als Emigration bleibt.

Den Migranten, die sich in den kommenden Jahren den Weg in die EG bahnen, bleibt der schwache Trost, daß Wanderer wie sie schon oft politische Veränderungen vorweggenommen haben. So folgte der massiven Emigration aus Portugal, Spanien und Griechenland einige Jahre später die Süderweiterung der EG, die alle drei Länder zu Mitgliedern machte. Spektakulärer und schneller noch war die Reaktion auf die Emigration von einem in den anderen deutschen Staat. Um sie zu stoppen, wurde letztlich die deutsche Landkarte neu gezeichnet. Wer weiß, vielleicht sind auch die Migranten aus Osteuropa und Nordafrika Vorboten einer größeren politischen Integration Europas. Auch wenn sich die EG jetzt noch dagegen sperrt.

Dorothea Hahn ist Westeuropa-Redakteurin der taz in Berlin.