FLIEHEN – ABER WOHIN?
: Übertreibung und Realität

Migranten und Umweltflüchtlinge in der Sahelzone  ■ VON WALTER MICHLER

Zehn Millionen Umweltflüchtlinge – so behauptet das renommierte „Worldwatch Institute“ – habe Afrika schon 1988 zu verzeichnen gehabt (“Report 89/90“). Über zwei Millionen Sahel-Bewohner hätten auf der Flucht vor der Dürre ihre traditionelle Wirtschaftsweise aufgeben müssen und seien in die Städte oder in die Küstenländer abgewandert. Worldwatch sieht die Wüste auf breiter Front im Vormarsch und resümiert: „Die Sahelzone ist das größte Gebiet der Erde, das vor einem Totalverlust seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche steht.“ Viele Afrika- Korrespondenten – die sonst ohne kolonialistische Brille berichten – sehen in der Sahelzone einen „Sozialfall für die Weltgeschichte“, eine Riesenregion, in der das Überleben von Millionen am Tropf der Dauersubventionen hänge. Ein gleichermaßen düsteres wie hoffnungsloses Szenario. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Hungerberichterstattung der letzten zwei Jahrzehnte hat meist den gesamten Staatengürtel am Südrand der Sahara als Sahelzone bezeichnet. Tatsächlich ist der Sahel wesentlich kleiner: Er bildet jenen Streifen quer durch den Kontinent, der an seinem Nordrand zur Sahara hin durchschnittlich 200 Millimeter Niederschlag pro Jahr abbekommt, während er im Süden bei etwa 600 Millimeter Niederschlag endet. In Ost-West-Richtung mißt die Sahelzone vom Senegal bis zur Rotmeerküste Äthiopiens rund 5.500 Kilometer; die durchschnittliche Breite von Nord nach Süd beträgt 420 Kilometer. Die Sahelzone besitzt damit eine Gesamtfläche von 2,32 Millionen Quadratkilometern (gut die sechsfache Größe Deutschlands); heute leben in dieser Region etwa 48 Millionen Menschen. Lebensbedingungen und Wanderbewegungen im Sahel hängen eng miteinander zusammen: Niederschlagsschwankungen gehören zum normalen Klimageschehen der Sahelzone, das heißt, Abweichungen von den genannten Durchschnittswerten nach unten und oben kommen sehr häufig vor. Da die im Sahel angebauten Hirsesorten mindestens 200 Millimeter Niederschlag benötigen, führt die zum Klimageschehen gehörende Abweichung nach unten immer wieder zu Erntedefiziten, und zwar hauptsächlich in den nördlichen Gebieten des Sahel.

Die Niederschlagsschwankungen treten meist periodisch auf. Seit dem 17. Jahrhundert ist ein Phasen-Rhythmus verstärkter Trockenheit und erhöhter Feuchtigkeit dokumentiert. Seitdem wissen wir aber auch, daß während der Trockenperioden Teile der Bevölkerung – insbesondere die Nomaden mit ihren Herden – nach Süden in die etwas regenreicheren Gebiete ausweichen. Das heißt: Diese Migrationsbewegungen der Bevölkerung sind keine Umweltflucht, sondern stellen ein an die natürlichen Bedingungen angepaßtes menschliches Verhalten dar; in der nächsten Feuchtphase wandern die Menschen wieder zurück. Die Erntestatistiken belegen, daß sich die Sahel-Staaten in Normaljahren selbst versorgen können. Im klassischen Sahel- Land Niger würde allein die Überschußproduktion der Normaljahre ausreichen, drei bis vier Millionen Menschen zu ernähren; auch in Defizitjahren reichen die selbsterzeugten Grundnahrungsmittel noch, um den Gesamtbedarf des Landes zu decken. Der Sahel ist also qua natürliche Bedingungen kein Subventionsfall für die Weltgeschichte. Kommt es dennoch zu Versorgungseinbrüchen, dann sind diese ein Ergebnis infrastruktureller Verteilungsprobleme: „man-made, not nature- made“. Es soll nicht geleugnet werden, daß etliche Städte innerhalb der Sahelzone während der letzten drei Jahrzehnte explosionsartig angewachsen sind. So stieg die Einwohnerzahl Nouakchotts, der Hauptstadt Mauretaniens, von 2.000 (1957) auf über 350.000 Mitte der achtziger Jahre. Doch diese enormen Zuwanderungen gehen nicht allein, auch nicht hauptsächlich, auf das Konto irreparabler Umweltzerstörungen, wie das Worldwatch Institute und andere behaupten, vielmehr liegt der Städteexplosion in der gesamten südlichen Hemisphäre unserer Welt überwiegend ein sogenanntes „Wanderungsgesetz“ zugrunde, das überall dort zur Wirkung kommt, wo die westliche Zivilisation auf autochthone Agrargesellschaften trifft und diese verändert. Schätzungsweise 20.000 Quadratkilometer jährlich werden in jüngster Zeit vom schleichenden Prozeß der Verwüstung getroffen. Und dies hat während der letzten zwei Jahrzehnte sicherlich einigen hunderttausend Menschen die Lebensgrundlage entzogen. Doch Modellprojekte (zum Beispiel Herausnahme von Flächen aus der Ackerbau- und Weidenutzung) zeigen, daß die Natur im Sahel über eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit verfügt: Wüsteninseln verwandelten sich wieder in Grünzonen. Das weitere Schicksal des Sahel und damit auch die künftigen Migrationsbewegungen sind also davon abhängig, ob die Menschen zu einem angepaßteren Verhalten an diese ökologisch sensible Region finden. Eine solche Veränderung ist aber auch an politische Perestroika gekoppelt: Die Sahel-Bewohner müssen endlich am Entwicklungsprozeß demokratisch beteiligt, ihr vorhandenes ökologisches Wissen muß genutzt werden.