GEN NORDEN – GEN WESTEN
: Japan – Brasilien und zurück

■ „Sansei“ – so heißen in Japan die Enkel derer, die einst nach Lateinamerika auswanderten. 1933 waren Marly Ishizakis Großeltern nach Brasilien gegangen. 1990 kam sie zurück. Jetzt arbeitet sie in einer Computerfirma und träumt von ihrem geliebten Brasilien. Ihre Geschichte, aufgeschrieben von CHIKAKO YAMAMOTO UND GEORG BLUME

Am 13. Oktober 1990 kam ich von Sao Paulo nach Japan. Mit meinen Eltern. Noch am Tag der Ankunft fuhr man uns mit dem Auto vom Flughafen Narita nach Hamamatsu am Fuße des Fujiyama, wo wir bei meinem Onkel übernachteten. Ich hatte vor, in einer Plastikfabrik in Hamamatsu zu arbeiten. Mein Onkel, der schon vor zwei Jahren nach Japan gegangen war, hatte alles arrangiert, und ich hatte ihm vertraut. Doch als wir einmal angekommen waren, kontrollierten uns die Leute der Vermittlungsfirma. Sie entschieden alles für uns. Schon am nächsten Tag, es war ein Sonntag, wurden wir von der Vermittlungsfirma mit dem Shinkansen, dem japanischen Superschnellzug, nach Okayama geschickt, etwa hundert Kilometer östlich von Hiroschima. Bis dahin wußten weder ich noch meine Mutter oder mein Vater, daß wir in einer Betonfabrik arbeiten würden.

Ich wollte schon immer nach Japan kommen und studieren. 1987 habe ich mein Wirtschaftsstudium in meiner Heimatstadt Londrina, 500 Kilometer westlich von Sao Paulo, abgeschlossen. Doch mir fehlte das Geld für die Reise. In Brasilien aber änderte sich in den letzten Jahren viel. Es kam ein neuer Präsident, es gab eine neue Verfassung und neues Geld. Die Inflation galoppierte. Die Steuern wurden erhöht. Wer arbeiten wollte, fand keine Arbeit. Oder sie war einfach zu schlecht bezahlt. Man konnte nicht einmal ein Paar Schuhe mit dem monatlichen Lohn kaufen. Das Leben in Brasilien wurde einfach unerträglich. Schließlich bin ich also vor allem des Geldes wegen nach Japan gegangen – oder soll ich sagen: zurückgekommen? Vor 58 Jahren gingen meine Großeltern von Fukuoka nach Brasilien- auch des Geldes wegen. Damals war die Situation eben das genaue Gegenteil von heute.

Meine Großeltern mütterlicherseits waren am 13. Juni 1933 mit dem Schiff aus Japan in Rio de Janeiro angekommen; nur zwei Monate später, am 13. August 1933, kamen meine Großeltern väterlicherseits. Sie verließen Japan, weil es in Brasilien Arbeitsplätze gab, nämlich auf den Kaffeeplantagen. Viele Japaner wollten dort arbeiten, sich Geld sparen und dann zurückgehen. Doch sie sind geblieben. Zehn Jahre lang arbeiteten meine Großeltern in den Kaffeeplantagen, dann konnten sie ein Stück eigenes Land kaufen und eröffneten selbst eine Plantage, die noch heute von den Geschwistern meiner Eltern unterhalten wird. Doch meine Eltern waren beide die jüngsten Kinder ihrer Familien; deswegen sind sie in die Stadt gezogen. Meine Mutter und mein Vater fühlen sich als Brasilianer. Ich auch. In Brasilien wurde ich zwar manchmal als Japanerin angeredet – aber wer ist schon Brasilianer? Da leben so viele Menschen, mit so vielen unterschiedlichen Abstammungen.

Meine zwei erwachsenen Brüder sind noch in Brasilien. Aber auch sie möchten nach Japan kommen, weil es ihnen wirtschaftlich immer schlechter geht. Mein Vater Joao Manabu Ishizaki, der früher eine gute Stellung bei Volkswagen in Brasilien hatte, und meine Mutter Teiko Ogawa Ishizaki, die als Friseuse einen Laden unterhielt, sind nach Japan gekommen, um hier zwei Jahre lang zu arbeiten und dann in die Heimat zurückzukehren. An die Betonfabrik hatten wohl auch sie im Traum nicht gedacht.

Die Firma Okayama-Concreto gehört zu einer großen Unternehmensgruppe aus Hiroshima. Meine Eltern und ich waren dort die ersten Ausländer überhaupt. Die Arbeit war dreckig, hart und gefährlich. Alles mögliche aus Beton habe ich dort hergestellt: Betonfertigteile für den Bau, Betonwände für die Begradigung von Flußufern und Bergwänden, sogar Fertigbauteile für die U-Bahn. Am Anfang mußte ich Löcher mit Beton vollstopfen. Oder ich habe am Fließband die Maschinenteile gewischt und geschmiert. Das alles mußte sehr schnell gehen. Besonders gefährlich war es, wenn wir die großen Betonteile miteinander verbinden mußten. Dann standen wir unter den Dingern, die achtzig Tonnen wogen. Ich schwitzte oft vor Angst. Die Maschinen waren alt, und manchmal sind die Betonteile heruntergefallen. Ein Brasilianer, der später zu uns kam, hat sich bei einem solchen Unglück den Arm zerquetscht.

Die japanischen Kollegen aber waren sehr nett zu uns. Sie haben mich angeleitet und manchmal sogar meine Arbeit übernommen, wenn es zu gefährlich wurde. Alle haben mich gefragt, wie ausgerechnet ich hierher gekommen sei. Denn die Arbeit, die ich und auch meine Mutter machten, war ja eindeutig für Männer bestimmt. Zudem gab es kaum junge Leute in der Fabrik. Die Kollegen erzählten, daß viele junge Japaner nicht mehr bereit sind, solch dreckige, harte und gefährliche Arbeit zu verrichten. Auch ich wollte mich dagegen wehren.

Aber ich wußte nicht, wo ich sonst hätte hingehen können. Damals konnte ich auch noch nicht so gut Japanisch sprechen. Ich wußte nicht einmal genau, wer mein Arbeitgeber war oder welche Firma mit welcher Firma verbunden war. Denn mein Gehalt bekam ich nicht in der Fabrik, sondern von dem Vermittlungsunternehmen, das sich „Asahi-Jyushi“ nannte. Das ist der gleiche Name, den die Plastikfirma trägt, in der ich eigentlich mit meinem Onkel arbeiten sollte. Heute vermute ich, daß hinter Asahi-Jyushi ein großes Vermittlungsunternehmen für Ausländer steckt. Der Chef von Aashi-Jyushi hatte im vergangenen Jahr meinen Onkel beauftragt, nach Brasilien zu fahren und dort zwanzig neue Arbeiter anzuheuern, zu denen meine Eltern und ich dann zählten. Wir nahmen das Angebot an, weil wir die Flugkosten nicht sofort, sondern in zehn Raten bezahlen mußten. Asahi-Jyushi zog dann den fälligen Betrag jeden Monat automatisch vom Gehalt ab.

Ich fühlte mich von der Vermittlungsfirma betrogen und wollte wieder zurück nach Brasilien. In der Stadt, wo ich arbeitete, gab es nur eine Telefonzelle für internationale Anrufe. Da traf ich dann die anderen Leute aus Brasilien. Sie erzählten ähnliche Geschichten wie die meine. Beklagten, daß sie weniger bezahlt bekamen, als vorher abgesprochen war, daß sie in Orten und Fabriken arbeiteten, wo sie niemals hingehen wollten. Immer lag das Problem bei der Vermittlungsfirma. Über die japanischen Kollegen hörte ich kaum Klagen.

Ich selber habe Rassismus in Japan bisher nicht erlebt. Natürlich gibt es unter den Latinos viele Klagen über die Japaner, aber ich glaube, auch dabei geht es meist nicht um Rassismus. Die Sprache ist das große Problem. Die meisten von uns können ja nicht mehr Japanisch sprechen. Und auf der japanischen Seite gibt es keine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Ausländern. Wer aber die Sprache nicht versteht, bekommt hier die schlimmsten Arbeiten zugewiesen. Dazu kommt die unterschiedliche Denkweise in Japan. In Brasilien scherzt man auch in der Chefetage. Es ist normal, bei der Arbeit Witze zu machen. Hier geht das nicht. In der Fabrik in Okayama hat ein Japaner dem neuen Kollegen aus Brasilien in der Pause Bananen angeboten. „Ich bin doch kein Affe! Essen Sie die Bananen selber“, hat der dann geantwortet. Das war natürlich ein Witz, aber der japanische Kollege wurde richtig sauer – solche Situationen habe ich zuhauf erlebt.

Im Februar habe ich dann mit Hilfe einer befreundeten Japanerin eine Stelle in der Computerfirma „TSD“ in Tokio bekommen. Ich bin allein gegangen, meine Eltern sind in Okayama geblieben. An dem neuen Arbeitsplatz geht es mir eigentlich gut. Doch für mich bleibt Brasilien das schönste Land. Nur wenn ich die Wirtschaftslage in Brasilien betrachte, denke ich, es ist besser, in Japan zu bleiben.

Georg Blume und Chikako Yamamoto arbeiten in Tokio als Korrespondenten für die taz.