Abgestürzte Brieftauben in Schwerin

■ Schweriner besetztes Haus in der Wallstraße zwangsgeräumt/ Staatsanwaltschaft und Polizei führen Ermittlungen/ 44 Punks inhaftiert/ Skins dürfen laufen/ Innenminister gibt keine Rechtfertigung

Schwerin. Das Haus in der Wallstraße ist zwangsgeräumt. Eins weniger; so werden in Schwerin offenbar Probleme im Umgang mit der Gewalt sauber gelöst. Der Generalstaatsanwalt Mecklenburg-Vorpommerns, Alexander Prechtel spricht vom drohenden „Hamburger Milieu“ in Schwerin und befürchtet Schlimmstes für seinen Hausfrieden.

Die Punk-Szene der Landeshauptstadt hatte sich tatsächlich Verstärkung aus der Hamburger Hafenstraße geholt, um sich am Mittwoch gegen Skins zu wehren. Die hatten vor, besagtes Haus samt Insassen kurz und klein zu schlagen.

Seit Tagen liefen in Schwerin handfeste Auseinandersetzungen und Zusammenstöße „militanter Gruppen“ (Skins, Punks, Hooligans), gab es Randale im Schweriner Internatskomplex Lankow, Überfälle auf das Ausländerwohnheim auf dem Datzeberg und Geplänkel im Neubaugebiet Dreesch.

Dort fiel auch der stadtbekannte „Schmuddelpunk“ Neugebauer einem Überfall von Rechtsradikalen zum Opfer, die sein Domizil im Dreesch kurzerhand platt machten. Neugebauer kam mit einem blauem Auge davon und im besagten Haus in der Wallstraße unter. Zu guter Letzt stürzen auch noch die „Abstürzenden Brieftauben“ über Schwerin ab, die am Mittwoch spielen sollten. Die Veranstalter bekommen Manschetten, wittern die „Gewalt“ und laden die Band kurzerhand wieder aus, zumal sich deren Fans aus oben erwähnter Szene rekrutieren.

Die kommen trotzdem, sind frustriert, ein Fiasko, weil ihre Helden nicht spielen. Das Ventil für ihre angestauten Aggressionen öffnen sie in der Wallstraße und lassen kräftig ab. Wie auch immer, dort läuft in der Nacht zum Donnerstag die ritualisierte Straßenschlacht mit Molotow- Cocktails, Leuchtspurgeschossen, Flaschen und all den Zutaten ab, die der Osten spätestens nach den Zwangsräumungen in der Ostberliner Mainzer Straße her kennt.

Polizei und Staatsanwaltschaft sind sich wie eh und je einig, Probleme werden gelöst, indem sie weggeräumt, sprich: geräumt werden, natürlich unter Hinweis auf Wahrung des gestörten Bürgerfriedens, der bedroht ist.

Beobachter aus dem Schweriner Kommunikationszentrum berichten, daß die Hausbesetzer am anderen Morgen die Straße gefegt hätten, nach dem Verursacherprinzip. Nicht des Trotz sind 44 Punks in Gewahrsam genommen, die bei ihrer Verhaftung keinen Widerstand geleistet haben sollen. Gegen sie laufen nun Ermittlungsverfahren „aufgrund des Verdachts auf zahlreiche Straftaten wie Hausfriedensbruch, Zerstörung von Bauwerken, Bildung bewaffneter Haufen“.

Die Skins sind von der Polizei laufen gelassen worden.

Nachspiel: Die Stadt Schwerin stellt empört Strafantrag gegen alle, die sich „unrechtmäßig in der Wallstraße einquartiert“ hatten. Der Generalstaatsanwalt greift durch: Derzeit werde geprüft, ob der Verdacht der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ gerechtfertigt ist. Weil der größte Teil der Verhafteten aus Hamburg kommt, äußert Prechtel: „Wir werden es nicht zulassen, daß sich in Schwerin Hamburger Hafenstraßenverhältnisse etablieren. Wir werden dem mit allen rechtsstaatlichen Methoden Einhalt gebieten.“ Was die Gründe für die zunehmende Gewalt anbelangt, meint Prechtel: „Hier werden von den Jugendlichen Freiräume genutzt; sie kosten sozusagen die neu gewonnene Freiheit aus, dem allein ist ja auch nichts entgegenzusetzen. Doch muß mit Hilfe auch der Eltern, Schulen, Gewerkschaften ein gesamtgesellschaftlicher Lernprozeß unterstützt werden, der die Grenzen von Recht und Freiheit jedem begreiflich macht.“ Als weiteren Grund nannte Prechtel die „Unsicherheit und Unerfahrenheit der hiesigen Polizei“; auch sie „müsse erst die neuen Richtlinien handhaben lernen“, weiß er.

Prechtel verweist auf eine „stärkere Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei in Zukunft, um den Austausch von Erfahrungen und Kenntnissen beim Umgang mit den kriminellen Gruppen zu gewährleisten“. Er forderte auch die Polizei auf, „alle rechtlichen Möglichkeiten einer vorläufigen Festnahme zu nutzen“.

Auch den Schweriner Landtag beschäftigen die Krawalle in der Schweriner Innenstadt. Eine von der oppositionellen SPD beantragte aktuelle Stunde zu den Aktivitäten Rechtsradikaler in der Landeshauptstadt lehnte Innenminister Dr. Georg Diederich jedoch ab. Auch verständlich — bevor er sich in den Ministerstuhl setzte, war er Laborleiter und versteht eher etwas von Abführmitteln oder Rizinus als von Politik. Bezeichnend sein „Ausländerrezept“: „Am besten auf das Land, ins Dorf schicken.“ Diederich sah zunächst keine Veranlassung, vor dem Parlament Rechenschaft über die von ihm getroffenen „polizeilichen Schutzmaßnahmen“ zu geben. André Beck