LEERE STRÄNDE

■ Wer fährt dieses Jahr noch nach Jugoslawien? Teil 1 einer touristische Verweigerung

Wer fährt dieses Jahr noch nach Jugoslawien?

Teil 1 einer touristischen Verweigerung

VONGÜNTERERMLICH

Diese Saison, das geben alle unumwunden zu, ist gelaufen. Obwohl Montenegro fernab vom Schauplatz der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Kroatien liegt, die Nationalitätenkonflikte Jugoslawiens hier nicht spürbar sind, werden an den Stränden der montenegrinischen Adria die Touristen in diesem Jahr massenhaft ausbleiben. Mitte Mai jedenfalls konnte man jeden Touristen einzeln per Handschlag begrüßen. Der zwölf Kilometer lange radium- und jodhaltige Sandstrand in Ulcinj, für 200.000 Sonnensüchtige bemessen, ist fast menschenleer. Nur der Prospekt läßt erahnen, wie es hier im August normalerweise aussieht. In den großen Hotels entlang der Küste verlieren sich einzelne Reisegruppen. Und die Freikörperkultur-Siedlung Ada, nahe des Mündungsdeltas des Bojana- Flusses an der albanischen Grenze, liegt so jungfräulich da, als wäre sie gerade erst als nudistisches Refugium entdeckt worden. Einsam steht der mit einer Plane verhüllte Golf, amtliches Kennzeichen F-KK 46, auf dem Parkplatz.

Renata ist Reiseleiterin beim staatlichen Reisebüro „Montenegroexpress“. Sie spricht exzellentes Deutsch, hat drei Jahre in Mannheim gelebt. Überhaupt ist die Verkehrssprache Nummer eins Deutsch, die Deutsche Mark die Verkehrswährung. Ende April erst wurde der Dinar zu 44 Prozent im Verhältnis zur D-Mark abgewertet. 40 Prozent der ausländischen Besucher sind Deutsche, allerdings mit leicht abfallender Tendenz in den letzten drei Jahren.

Nach einer Reise durch das vom Krieg arg gebeutelte Montenegro schrieb der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, daß dies Land wohl das einzige der Welt sei, das einen Minister für Industrie besitze, aber keine Industrie. Die Zeiten haben sich geändert. Heute, 45 Jahre später, gibt es — zum ersten Mal in Montenegro — einen Minister für Tourismus. Die regierende Kommunistische Partei, aus den ersten freien Parlamentswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg im Dezember 1990 mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit hervorgegangen, setzt große Hoffnung auf die „weiße Industrie“. „Unsere hauptsächliche Priorität gilt der Entwicklung des Tourismus und der Landwirtschaft“, erklärte der montenegrinische Ministerpräsident Milo Djukanovic kürzlich vor Pressevertretern in Titograd. Der stämmige Zweimetermann Djukanovic gehört mit seinen 29 Jahren zur jungen Avantgarde Montenegros, die sich selbst als „jung, intelligent und hübsch“ bezeichnet. In Großdemonstrationen mit 60.000 Teilnehmern, einem Zehntel der Bevölkerung der Republik, ist die alte Nomenklatura im letzten Jahr zum Abdanken gezwungen worden.

Mit der Industrialisierung sei kein Staat mehr zu machen; der Industriefetischismus der frühen sozialistischen Jahre solle überwunden werden, ist die montenegrinische Zukunftsdevise. Mehr noch: Die großen Industrieunternehmen werden als „Hindernis für die weitere Entwicklung“ angesehen. Deshalb steht bei der Umstrukturierung der Wirtschaft der Tourismus neben der Landwirtschaft im Regierungsprogramm ganz obenan. Zur effizienten Verwirklichung der touristischen Entwicklungsstrategie bedürfe es aber privaten und ausländischen Kapitals.

Zwei Großprojekte sind bereits in der Planung. Ein Touristenkomplex in Buljarice, 20 Kilometer südlich von Budva, ist mit 350 Millionen US- Dollar nicht nur „das größte Projekt in Jugoslawien auf dem Gebiet des Tourismus“ (Premier Djukanovic), sondern gehört zu den größten Investitionen ausländischen Kapitals in Jugoslawien überhaupt. 15 Prozent steuert die Republik Montenegro bei, den Löwenanteil von 85 Prozent die britische Firma „Metropolitan County of London“. Die autarke, exklusive Touristenstadt soll bei ihrer Fertigstellung 1995 alle Schikanen aufweisen: fünf 5-Sterne-Hotels, 80 Villen und Suiten, vier Tennisplätze, zwei Golfplätze, eine Marina mit 200 Liegeplätzen, ein Geschäftszentrum. Daneben soll bei Jaz auf 250 Hektar ein zweiter, ähnlich dimensionierter Touristenkomplex mit 2.000 Betten entstehen.

Bedenken, die Urbanisation der montenegrinischen Adriaküste könne mit den neuen Großprojekten unvermindert anhalten, wischt Vukasin Culafic, lange Zeit Leiter der Düsseldorfer Filiale des jugoslawischen Fremdenverkehrsamtes, vom Tisch. „Wir sind eine der wenigen Urlaubsregionen in Europa, die damit angeben kann, noch zu bauen, ohne daß etwas verbaut wird. Wir haben aus den Fehlern der anderen gelernt, nicht zu dicht und zu hoch zu bauen. Ein neues Torremolinos oder Rimini wird es bei uns nicht geben.“

Das Parlament hat in der Hauptstadt Titograd unterdessen eine Initiative der Regierung angenommen, Montenegro zum „ersten ökologischen Staat der Welt“ zu erklären. Bisher befände sich dieses Projekt noch im „Stadium der Idee“, erläutert Premier Djukanovic. Was ist darunter zu verstehen? „Healthy clean air, water, food on land and sea.“ Diese Absichtserklärung bleibt (noch) im Stadium der Sprechblase stecken. Ob dieser ökologisch-universelle Anspruch ernsthaften Kriterien standhält oder ob hier verbal viel heiße Luft abgesondert wird, muß sich zeigen. Es gäbe ein großes Interesse ausländischer Organisationen und Kapitals, versichert Djukanovic, dieses staatliche Öko-Projekt konkret zu unterstützen.

Montenegro als Zünglein an der Waage

1918, im neugeschaffenen Königreich, hörte Montenegros Selbständigkeit auf. Im Jugoslawien Titos wurde Montenegro eine von sechs Teilrepubliken des Vielvölkerstaates, mit Serbien und Kroatien gleichgestellt. Ganz im Gegensatz zur eigenen bescheidenen Größe (13.800 Quadratkilometer, 600.000 Einwohner) ist Montenegros politischer Einfluß: Es steht fest an der Seite Serbiens und sieht sich als Garant der jugoslawischen Föderation. Überproportional viele Montenegriner finden sich in der jugoslawischen Volksarmee und in den Sicherheitsdiensten. Erst kürzlich hat der montenegrinische Vertreter im Staatspräsidium das Zünglein an der Waage gespielt, als er durch seine Enthaltung bei der Wahl des turnusmäßigen Kandidaten, des Kroaten Felipe Mesic, zum Staatspräsidenten die Krise im Vielvölkerstaat weiter anheizte.

Reiseleiter Miodrag, den alle nur Dule nennen, schmettert, wo immer das Lied an die Einheit Jugoslawia angestimmt wird — und es wird oft angestimmt —, im Brustton der Überzeugung mit: „Von Vasdar (in Mazedonien) bis Triglav (in Slowenien), von Derdapa (Donau) bis zur Adria.“ Dule ist Parteigänger der jugoslawischen Konföderation. „Wir haben siebzig Jahre in einem Staat gelebt und können nicht in zwei Tagen darauf spucken.“ Als was er sich fühle? Dule überlegt kurz. Nun, zuerst einmal als Niksiciner, als Einwohner seines Geburtsortes (Niksic ist die zweitgrößte Industriestadt nach Titograd), dann als Montenegriner, im Ausland natürlich als Jugoslawe. „Demokratie und Waffen passen einfach nicht zusammen“, lautet sein Glaubensbekenntnis.

Am 15. April 1979, einem Ostersonntag, bebte die Erde im südlichen Montenegro. Die Schreckensbilanz: über hundert Tote, Tausende von Schwerverletzten, 60.000 Obdachlose. Die mittelalterliche Altstadt von Kotor wurde zu 60 Prozent, die von Budva gar zu 95 Prozent zerstört. Kotor, das allein über 40 Prozent des Kulturgutes der Gegend beherbergt und von der Unesco als „besonders wertvolles kulturhistorisches Erbe“ unter Schutz gestellt wurde, ist auch heute noch die verheerende Wirkung anzumerken. Erst 50 Prozent seien restauriert worden, heißt es.

Budva hingegen, die venezianische Festungsstadt auf einer Landzunge, ist vollständig auferstanden aus Ruinen. Nach Originalplänen wurden die Fassaden der Häuser restauriert, im Innern modernisiert. Sicherheitshalber verlegte man die Versorgungseinrichtungen wie Wasser- und Stromleitungen unterirdisch. Alle Jugoslawen mußten zehn Jahre lang einen Notdinar von ihrem Lohn zur Erdbebenhilfe beisteuern. Budva hat davon sichtbar profitiert. Es wirkt wie ein aus dem Ei gepelltes Freilichtmuseum. Im Winter ausgestorben wie die anderen Badeorte an der Küste auch, war Budva in den vergangenen Jahren im Juli und August quirliges Zentrum für ein internationales Festival, dem „Stadttheater“.

Gelüste auf den Königsthron?

Cetinje, die „Stadt am steinernen Meer“, knapp 700 Meter hoch in einer Mulde am Abhang des Lovcen- Gebirges gelegen, war einmal als ehemalige Hauptstadt das historische Zentrum Montenegros, bis sie 1946 vom gesichts- und geschichtslosen, am Reißbrett entstandenen Titograd abgelöst wurde. Cetinje strahlt Ruhe aus. Die in zarten Pastelltönen gehaltenen, meist eingeschossigen Villen, oft mit barockem Stuck verziert, die sich an der Hauptstraße entlangziehen, ehedem als Residenzen und Botschaftsgebäude genutzt, wirken wie anmutige Farbtupfer vor dem Hintergrund der karstigen, grauen Gebirgslandschaft. Der einstige Königspalast, heute Staatsmuseum, ist vollgepfropft mit Geschenken europäischer Monarchen. Man spürt noch etwas von dem operettenhaften Charme der ehemaligen kleinsten europäischen Residenzstadt des Fin de siècle. Hier betrieb der selbsternannte König Nikola 57 Jahre lang in seiner Minimonarchie Großmachtpolitik, bis er 1916 ins französische Exil getrieben wurde. Im Zeichen der neuen Zeit standen im Herbst 1989 200.000 Montenegriner Spalier, als mit feierlichem Pomp die sterblichen Überreste König Nikolas nach Cetinje „heimgeholt“ wurden.

Prinz Nicola, einziger Nachfahre der Petrovic-Dynastie König Nikolas, der als Architekt und Maler in Paris lebt, fühlte sich „von der Geschichte plötzlich zurückgerufen“ nach Cetinje. Hier organisiert er zum ersten Mal von Juni bis September die „Biennale von Cetinje“, laut Eigenwerbung „Osteuropas erstes internationales Festival der zeigenössischen Kunst“. Prinz Nikola, versichert Reiseleiterin Renata überzeugend, sei nur als Kulturspender Montenegros zurückgekommen und habe keinerlei politische Ambitionen oder Gelüste auf den Thron.

Das Erdbeben von 1979 war ein schwerer Schlag ins montenegrinische Tourismuskontor. „Fünf Jahre haben wir gebraucht, um von dem katastrophalen Image wegzukommen, das die Medien vermittelt hatten. Die Touristen hatten Angst in den Knochen“, beklagt Vukasin Culafic das damalige negative Medienecho. Jetzt haben die Touristen wieder Angst — und bleiben in Scharen weg. Sicherheit wird in diesen Tagen großgeschrieben. Jeder Bürgermeister und jeder einheimische Tourismusverantwortliche preist die Schönheit der Küste, die abwechslungsvolle Landschaft und — die Sicherheit. „In fünfzig Jahren ist hier keinem Touristen etwas passiert — außer bei einigen Verkehrsunfällen.“ Und dennoch: Der Sogeffekt der negativen politischen Schlagzeilen Kroatiens setzt sich bis in die südöstliche jugoslawische Republik fort. Mitgehangen, mitgefangen.

Die Mittelmeerländer stehen im harten Wettbewerb um die Gunst der ausländischen Touristen. Und das um so mehr, als die einheimische Wirtschaft von Deviseneinnahmen aus dem Tourismussektor abhängt. Mißgeschicke nebenan bedeuten immer einen warmen Segen fürs eigene Portemonnaie. Ob die Algenpest in Italien, Streiks und Preissprünge in Spanien oder eben die bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Jugoslawien — die jeweils fremden Fremdenverkehrsverantwortlichen verspüren pro domo klammheimliche Freude.

370 Quadratkilometer mißt der Skutari-See im Normalfall. Wenn das Schmelzwasser im Frühling von den Bergen herabströmt, wächst der See beträchtlich über sich hinaus und überflutet die meist verschilften Ufer. Daher liegen die fünfzig kleinen Dörfer in einigem Sicherheitsabstand von der Uferlinie entfernt. Die Einheimischen leben vom Fischfang: 100 Tonnen jährlich.

Virpazar ist die einzige größere Ansiedlung am Ufer des Skutari- Sees. Am 13. Juli 1941 erhoben sich hier die Partisanen gegen die italienenischen Besatzer. Neben einem Denkmal erinnert das Hotel im Ort, das einzige am See überhaupt, an den Aufstand. „13. Juli“ steht an der Stirnseite in lateinischer, an der Seeseite in kyrillischer Schrift.

Frau Bojana Vuwanovic ist ein Paradiesvogel unter den einheimischen Tourismus-Promotoren. Auf einem fotokopierten zweiseitigen Faltblatt sind die geplanten Aktivitäten ihrer „Jezerska zadruga“ aufgelistet, der seit Dezember 1990 hier am Skutari-See beheimateten „Kooperative für Tourismus, Landwirtschaft und Handwerk“. Bojana, die am „London College of Arts“ Film studierte, arbeitet hauptberuflich als PR-Managerin für den seit 1983 bestehenden Nationalpark „Skutari See“. Ihre „Kooperative aus Enthusiasten“ bestehe aus vierzig Leuten, Bauern, Fischern und Handwerkern, die einmalig 400 Dinar (etwa 30 D-Mark) beim Eintritt gezahlt haben. Bisher machen sie nur Bootsexkursionen auf dem See, der mit weißen und gelben Seerosen so dicht bewachsen ist, daß Fahrrinnen ausgeschnitten werden müssen. „Glaube an dich und dein Pferd“, zitiert Bojana ein einheimisches Sprichwort. Die Leute wollen hier unabhängig bleiben und keine Bankkredite aufnehmen. Nur das künftig selbst Erwirtschaftete solle wieder investiert werden. Zunächst müssen die einfachen Steinhäuser mit Badezimmern ausgestattet werden, um sie als Privatunterkünfte vermieten zu können. Später dann sollen geführte Wanderungen, Vogelbeobachtungen, Kurse zur Bestimmung medizinischer Kräuter und Anglerkurse angeboten werden. Auch denkt man daran, gesunde Nahrung ohne chemische Zusätze zu produzieren.

Doch ob es einmal dazu kommt, ist für Bojana zweifelhaft: „Wir haben bis jetzt nicht einmal genug Geld, Prospekte zu drucken, um auf uns vor allem im Ausland aufmerksam zu machen.“ Die Mitglieder der Kooperative seien möglicherweise nicht sehr geduldig. Wenn die Leute keine Chance sähen, Geld zu verdienen, würde das Projekt wohl kaum überleben können.

Für diese Art von Tourismus, meint Bojana, hätten die Regierenden in Belgrad und Titograd sowieso kein Verständis. „Das sind oft Leute, die früher selbst in Dörfern gelebt und die dieses primitive Leben hinter sich gelassen haben.“ Die harte und dreckige Arbeit hätten sie mit der urbanen Welt der Autos, des Fernsehens und des Betons eingetauscht.

Das Projekt der Skutari-Kooperative, das auf „intakten ökologischen Prinzipien basiert“, könnte ein Grundstein sein für Montenegros Ansinnen, erster ökologischer Staat der Welt zu werden.