TGV — der Musterzug des französischen Dirigismus

Der Schienenrenner TGV soll Frankreich wohlbehalten ins 21. Jahrhundert transportieren/ Der Staat zahlt, betreibt und baut die Super-Bahn  ■ Aus Paris A. Smoltczyk

Hoch oben im hypermodernen Triumphbogen „Arche de la Défense“ sitzt Frankreichs Transportminister und blickt zufrieden über das Gewirr von Autobahnzubringern hinweg nach Westen. Irgendwo dort hinten muß Texas liegen, denkt er sich, das Land, wo alles groß ist und prächtig. Und eben dorthin wird sich bald das stolze Flaggschiff französischer Industriepolitik auf den Weg machen: der TGV, mit 515,3 Stundenkilometern schnellster Zug der Welt. Texas nämlich wählte den TGV, und nicht den bequemeren, aber teureren ICE aus dem Hause Siemens.

Wie sagte Frankreichs neue Premierministerin Edith Cresson? „Wir haben einen industriellen Sieg errungen.“ Genau. Und der Transportminister denkt an den neuen TGV- Bahnhof, der unter ihm in La Défense entstehen wird, an die 4.000 neuen Streckenkilometer, die das Kabinett gerade beschlossen hat. Und er denkt an 1871, als Frankreich sich auf eben diesem Hügel gegen die Preußen verteidigte. Schon damals gegen die Preußen.

„Der Kopfbahnhof in Paris und dahinter dieses Wesen, diese Eisenschlange, deren Wirbelsäule die Linie ist, mit ihren Gliedern, den Gleisverzweigungen (...) und schließlich den Endstationen, die den Extremitäten eines Leibes gleichen“ — das könnte die Beschreibung des neuen TGV-Streckenplans fürs Jahr 2015 sein. Sämtliche Provinzstädte mit Radialen an die Hauptstadt angebunden. Brest, Bordeaux, Clermont- Ferrand, Lille, Straßburg, Marseille. Querverbindungen sind auch im nächsten Jahrtausend nicht vorgesehen.

Obiges Zitat stammt von Emile Zola, der in der Eisenbahn den Inbegriff von unaufhaltsamem Fortschritt sah. Aber die Zeiten ändern sich nicht. Ausgerechnet mit der Eisenbahn, die wie keine andere Technik mit dem 19. Jahrhundert verbunden ist, wollen Frankreichs Industriepolitiker ihr Land ins 21. Jahrhundert führen. Der TGV soll in den nächsten Jahren Marktführer in Sachen Hochgeschwindigkeitszügen werden. Die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht. Spanien hat sich bereits 1988 für den TGV entschieden. Nach dem industriellen Sieg in Texas hofft man nun, daß auch Südkorea, Taiwan, Kanada und Australien sich für den TGV und gegen Siemens entscheiden werden. Das wäre dann — nach den liberalistischen Achtzigern — ein später Triumph französischen Dirigismus.

Die ganze merkantilistische Modernisierungspolitik de Gaulles stand unter dem Zeichen der Eisenbahn. Mit billigen Staatsgeldern, effizienten Zollschranken und einem Heer hochausgebildeter Experten aus den Grandes Ecoles sollten Brückenköpfe besetzt werden. Die würden dann den Rest der Ökonomie hinter sich her ziehen. Wie eine Lokomotive eben. Nicht immer konnten sich die Ingenieure dabei mit gloire bekleckern. Die Concorde wurde ein Flop, die Atomstrompolitik mit Fließbandreaktoren brachte das Land in ausweglose Abhängigkeit von der Nukleartechnologie.

Der TGV aber funktioniert. Er ließ den Flugverkehr zwischen Lyon und Paris zum Erliegen kommen, macht eine halbe Milliarde Mark Gewinn auf der Strecke und bugsierte die SNCF dadurch aus ihrem Defizit heraus. 21 Millionen Passagiere im Jahr, 60.000 jeden Tag allein zwischen Lyon und Paris. Zwei Stunden von Paris nach Lyon, vier Stunden nach Marseille, drei Stunden nach Bordeaux... Und all dies ohne Aufschlag! Zeit ist eben doch kein Geld. Schon haben der Transportminister, die staatseigene SNCF und der ebenso staatseigene Lokhersteller Alsthom ein Forschungsprogramm für eine neue TGV-Generation in Höhe von 535 Millionen Francs gestartet. Die sollen mit Dauergeschwindigkeiten von 350 Stundenkilomtern rollen.

Und wer zahlt das alles? Die ganzen 160 Milliarden Francs, die bis 2015 in neue Geleise investiert werden sollen? Wenn sich für eine geplante Strecke eine Rentabilität von acht Prozent errechnet, dann darf die SNCF Schulden machen und alleine bauen. Wenn die Schwelle (meistens) nicht erreicht wird, springt der Staat mit billigen Krediten ein. Die Regionen sollen ebenfalls zahlen. Die SNCF ist heute übrigens mit 100 Milliarden Francs (knapp 30 Milliarden Mark) verschuldet. 38 Milliarden Franc wird der Staat übernehmen, der Rest soll über die Ausgabe von Anleihen am Kapitalmarkt gedeckt werden. Zum Vergleich: Die Deutsche Bundesbahn hat 47,06 Milliarden DM Schulden angehäuft. Eine Privatisierung der Eisenbahn wird in Frankreich auch von den glühendsten Liberalen nicht ernsthaft erwogen. Schließlich ist der Ausbau des TGV-Netzes ein großes nationales Programm — so wie der Atomstrom, die Bombe und das Videotextsystem Minitel.

Paradoxerweise hat der TGV den französischen Zentralismus noch verstärkt: Weil Paris näher gerückt ist, können sich auch Provinzfirmen leisten, ihren Sitz an die Seine zu verlegen. In die Provinz versetzte LehrerInnen legen ihre Stunden so, daß sie drei Tage in der Woche in der Hauptstadt leben können. Die Vereinigung der Eisenbahnbenutzer beklagt ihrerseits, daß der klassische Zugverkehr unter dem Hochgeschwindigkeitskurs zu leiden habe. Und Lokalpolitiker warnen vor einem „Raum zweier Geschwindigkeiten“ — Boomzonen dort, wo der TGV hält, und ansonsten schwarze Löcher, wo die Zeit stillsteht. Kein Wunder, daß Entscheidungen über Streckenverläufe von erbitterten politischen Auseinandersetzungen und skrupellosem Antichambrieren begleitet sind.

Einsprüche gegen Streckenverläufe sind nicht vorgesehen. Letzen Endes entscheidet Paris, also das übergeordnete Interesse, wo gebaut wird. Bislang ist es lediglich im Rhônetal und in der Provence zu breitem Widerstand gegen das Frankreich der zwei Geschwindigkeiten gekommen. Die Bürgerinitiativen im Rhônetal erreichte eine Änderung der Streckenführung. Die Trasse soll jetzt nahe der Autobahn verlaufen und die angrenzenden Weinbau- und Naturschutzgebiete verschonen. Der Widerstand in der Provence dauert noch an: „Wir wollen nicht zur Vorstadt von Paris werden“, heißt es dort. Texas ist nicht überall.