: Mit Sushi und Sake im Shinkansen durch Japan
Luxus plus Effizienz: Wie die Eisenbahn in Nippon zu neuen Erfolgen fährt/ Die Privatisierung der ehemaligen Staatsbahn ist nur einer der Gründe ■ Aus Tokio Georg Blume
Dieses Gefühl, ganz vorne zu sitzen, dort, wo die Bahn frei ist und die Schienen ihren unendlichen Weg weisen. Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, neben dem Lokomotivführer in der Spitze des Zuges zu sitzen? Japans Eisenbahndesigner machen's möglich — auch ohne Zugführerschein. Im „Resort 21“, Japans neuester und schönster Schienenattraktion, beginnen die Sitzreihen im ersten Waggon gleich hinter der Führerbank, von der sie dann wie im Kino ansteigen. Nicht einmal eine Glaswand trennt hier Fahrgäste und Lokführer — aber um Ruhe wird gebeten, Ruhe für die Phantasie der Reisenden, die nun über die Mütze des Zugführers hinweg nach allen Seiten den Blick schweifen lassen. Die Kinder im Wagen finden das toll und sind ganz still.
Gestenreich hatte die kurzgelockte Bahnführerin auf der Halbinsel Izu ihre Gäste zum Einsteigen geladen. „Guten Morgen“, eine Verneigung, „und gute Reise.“ Zum Fahrtantritt erschien die Zugbegleiterin persönlich im Abteil, pries ihren Service, das Wetter und die Landschaft; die Fahrkarten werden erst später kontrolliert. Das ist die Höflichkeit in Japans Zügen, und auch ein Grund, warum die Bahn heute wieder so beliebt ist.
Jahrzehntelang war die Bahn das schwarze Schaf des japanischen Wirtschaftswunders, bekannt für ihre Unfreundlichkeit gegenüber den Fahrgästen, gescholten für permanente Streiks, berüchtigt für das größte Defizit, das je ein Unternehmen auf der Welt eingefahren hatte. Doch in den 80er Jahren nutzte die Regierung die steigende Unpopularität der Schiene, plante die Privatisierung, brach die gewerkschaftlichen Widerstände und teilte schließlich 1987 das Staatsunternehmen Bahn in sieben neue regionale Gesellschaften auf. Diese arbeiten seither mit einem eigenen Management nach privatwirtschaftlichen Kriterien, während die öffentliche Hand den alten Schuldenberg verwaltet.
Anfang Juni konnten die sieben neuen Bahnunternehmen ein erstaunliches Ergebnis vorlegen: Zum ersten Mal seit über dreißig Jahren erwirtschaftete die Bahn in Japan 1990 einen Gewinnzuwachs, und zwar gleich um 44 Prozent auf volle drei Milliarden D-Mark. Nicht einmal in linksalternativen und gewerkschaftsfreundlichen Kreisen leugnet man die Veränderung und den Erfolg, den die Bahn seit ihrer Umstrukturierung erlebt.
Das beginnt beim Fahrkartenverkauf. Wie das früher ablief, läßt sich noch an manchem Tokioter Bahnhof erleben, etwa in der Vorstadt Jiyugaoka. Dort sitzen wie in alten Zeiten acht Männer hinter einem Tresen, die für jede Fahrkarte in der Regel zehn Minuten brauchen. Sie rauchen, quatschen untereinander mehr als mit den Kunden und sind Frauen gegenüber besonders unhöflich — ein Verhalten, das Teil der überlebten Arroganz des alten Männervereins Eisenbahn ist. Wieviel zügiger das Fahrkartengeschäft laufen kann, zeigt sich wenige Zugkilometer weiter im neuen Bahnbüro von Tokio- Shibuya. Dort bedienen Frauen, dort raucht niemand, dort läßt sich jedes Hotel im Land auf Empfehlung der Fahrkartenverkäuferinnen gleich mitreservieren.
Takashi Ohsuka, Abteilungsleiter bei der 1987 geggründeten „Ostjapanischen Eisenbahn“, erklärt die vier Angelpunkte der neuen Bahnpolitik: neue Luxuxbahnen wie der „Resort 21“, mehr Service rund um die Schiene, mehr Züge insgesamt und höhrere Geschwindigkeiten. „Für Geschäftsleute haben wir jetzt eine neue Bahn, die sie in eineinhalb Stunden von Tokio direkt vor den Skilift bringt. Dort können die Angestellten zwei Stunden Ski laufen und gleich wieder nach Hause kommen. Im Ticket sind alle Reservierungen, Ski, Schuhe und Lift, natürlich enthalten.“ Für Familien bietet Ohsuka dagegen den neuen Kinderwaggon an: ein Doppeldecker, in dem die Eltern oben sitzen, während die ganze untere Etage für die Kinder zum Spielen freigeräumt ist. Dort ist sogar zum Toben genug Platz.
6,2 Prozent betrug der Bahnanteil am Personenverkehr 1990 in der Bundesrepublik, in Japan waren es annäherend 35 Prozent. Allein in den letzten vier Jahren stieg die Zahl der abgefahrenen Bahnkilometer in Japan um annäherend 20 Prozent auf 630 Millionen Kilometer. Um ebenfalls knapp 20 Prozent stieg auch die Zahl der Fahrgäste. Weil er diese Erfolgsstory wohl mit eigenen Augen sehen will, kommt der neue Bundesbahnchef Heinz Dürr am Sonntag nach Tokio. Man wird ihm dann erklären können, wie sich Superschnellzüge mit einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern in einem Abfahrtstakt von eineinhalb Minuten hintereinander fahren lassen. In Deutschland fährt jetzt zwar der ICE — jedoch nicht im Minuten-, sondern Stundentakt.
Bahnchef Heinz Dürr wird aus Japan vermutlich als Apostel einer schnellen Bundesbahnprivatisierung zurückkehren. Seit seiner Ernennung hat er sich für die Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft stark gemacht — eine Maßnahme, deren letzter Schritt, der Aktienverkauf, in Japan eigentlich schon dieses Jahr erfolgen sollte. Weil aber die Börse in Tokio derzeit tief liegt, wartet die japanische Regierung noch ein wenig. Genau genommen sind die japanischen Bahnen also noch längst keine Privatbetriebe. Ihren Erfolg haben sie mit einer neuen Organisationsstruktur, neuen Richtlinien und neuen Angeboten eingefahren, nicht aber durch neue Besitzverhältnisse, die es noch gar nicht gibt.
„Das Problem bei der Eisenbahnpolitik“, definiert Toshi Moriyama, Abteilungsleiter im Tokioter Verkehrsministerium, „ist die Tatsache, daß private Bahnunternehmen hohe Profite machen können, ohne auch nur einen Strohhalm zu rühren — nämlich einfach indem die Zahl der Fahrgäste steigt.“ Als Leiter der zuständigen Ministeriumsabteilung hat Moriyama die Bahnprivatisierung orchestriert. Doch sind Nippons Bürokraten in der Regel keine Ideologen des freien Marktes. „Früher lag das Problem beim Defizit der Bahn. Ohne Geld gab es keinen neuen Linien, keine Investitionskraft. Heute aber verdienen die Bahnen genug, um zu investieren. Aber: es wird nicht genug investiert.“
Dann erzählt Moriyama die Geschichte von der Odakyu-Bahn. Jeder Tokioter kennt diese stets hoffnungslos überfüllte Vorstadtbahn, die im Besitz einer Kaufhausfirma steht. Ein neues Signalsystem könnte die Zugfrequenz erheblich erhöhen, doch investiert Odakyu lieber in neue Immobilienprojekte als den Fahrgästen zuliebe. Schon hat das Ministerium Kredite angeboten, Steuererleichterungen und sogar eine Subvention. Moriyama stellt fest: „Rechte haben wir gegenüber Odakyu keine, wir verfügen nur über Druckmittel.“
Es liegt freilich in der Eigenart des japanischen Wirtschaftssystem, welches sich durch die regelmäßige Symbiose zwischen Ministerialbürokratie und Unternehmerschaft auszeichnet, daß auch die informellen Druckmittel der Regierung Wirkung zeigen. In der alten Staatsbahn war dieses bislang effiziente, wenngleich undemokratische System durch die Macht der Gewerkschaft außer Kraft gesetzt. Die Eisenbahnergewerkschaft Kokuro war bis Anfang der achtziger Jahre nicht nur die radikalste und mächtigste japanische Arbeiterorganisation, sie war überhaupt die letzte, die der Gegenseite Paroli bot und eigene Forderungen aufstellte. Gegen den Willen von Kokuro wurde die Angestelltenzahl der ehemaligen Staatsbahn von 1981 400.000 auf heute 200.000 Eisenbahner beschnitten — eine Maßnahme, die in einem Land, wo dringender Arbeitskräftebedarf besteht, keine großen sozialen Fragen aufwarf, wohl aber auf die Schwierigkeiten eines ähnlichen Programms in Europa verweist. Kokuro hat die Privatisierung nicht überlebt, ihr Einfluß ist heute minimal. Ob es sich für Japan gelohnt hat, für mehr Komfort beim Bahnfahren die Fähigkeit, Arbeitskonflikte zu führen, aufzugeben, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls beschäftigen solche Gedanken nur wenige Fahrgäste. Ihnen macht das Bahnfahren wohl einfach zu viel Spaß. Die Picknick-Orgie mit Sushi und Sake im Shinkansen hat nämlich Tradition.
„Im Speisewagen — vier oder fünf exzellente Gerichte stehen zur Auswahl — kostet das Essen 42 Cents. Das effiziente Management macht das möglich. Um fünf Uhr kommt der Steward, um genau zu erfragen, wie viele Fahrgäste ein Essen wünschen. Dann werden genau so viele Essen gekocht, und es gibt keine Verschwendung.“ Luxus gepaart mit Effizienz und Sparsamkeit — das waren die Eindrücke des US- amerikanischen Journalisten Dean Allen beim Bahnfahren in Japan im Jahr 1935. Sie stimmen noch heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen