Sackgassen vermeiden

■ Ein Sampler führt durch elektronische Klanglandschaften

Die Reise in ein fremdes fernes Land läßt sich auf vielerlei Weise gestalten. Man kann den Tips von sachkundigen Freunden folgen, einschlägige Prospekte konsultieren, auf eigene Faust Expeditionen ins Unbekannte wagen... Auf diese Weise wird man einige Sehenswürdigkeit finden, aber verpaßt man nicht vielleicht gerade so die verborgenen Schönheiten? In musikalischen Gefilden nehmen Sampler die Funktion der Sightseeingtour mit ortskundigem Führer ein. Sie weisen, je nach Güte, den Weg durch Verlagsprogramm in das Panorama eines großen musikalischen Themas.

Ein Führer durch die Landschaft der nordamerikanischen elektronischen Musik ist der Sampler Imaginary Landscapes. Abwechlungsreiche Landschaften: denn „Elektronische Musik“ bezeichnet in erster Linie ein Instrumentarium, das nicht weniger Klangerzeuger zusammenfaßt als ein Orchester. Entsprechend unterschiedlich fallen denn auch die Stücke des vorliegenden Samplers aus. Da sind zunächst die Arbeiten mit dem Synthesizer (um genau zu sein: Keyboard), dem volkstümlichsten Instrument aus dieser Familie. Synthesizer haben eine Schwierigkeit: die Sounds sind in der Regel durch die Popmusik so verramscht, daß ihre Verwendung unausweichlich in dieser Klangsphäre kleben bleibt. Die Stücke von Shelley Hirsch/David Weinstein, Maryanne Amacher und „Blue“ Gene Tyranny kranken denn auch an der Liebe zum Klischee. Wolkiges Pathos und Hall sind als musikalische Mittel zu simpel gestrickt, um auf mehr als ein naives Gemüt schließen zu lassen.

Der Einsatz von Computern kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen, gleichwohl drohen auch hier Klischeefallen. Da blubbern alleingelassene Computer wie heiße Quellen (während die Maschinen in Realtime kybernetische Fronarbeit verrichten, amüsiert sich der Komponist in der Kantine). Mark Trayle läßt nach komplexen Algorithmen Impulsfolgen generieren, um das Geschehen zu beleben; Ron Kuivila bemüht ein rasendes Metrum (Rhythmus wäre zuviel gesagt) das er mit Filtern moduliert. Musikalisch ist das kaum erquicklicher als ein Videospiel.

Ein erzählendes Konzept verfolgt Laetitia deCompiegne Sonami. Sie spricht die Geschichte einer Frau, die von Sex, Ehe und Gewalt handelt, und verarbeitet die Stimme elektronisch. Impulse zerschießen das Gesprochene, die Worte werden zerhackt und dadurch rhythmisiert. Allmählich wird die Stimme durch Klänge ersetzt, es bleibt schließlich nur noch die sprachliche Diktion übrig, bis sich auch diese verliert und in die Brandung eines Meeres übergeht. Wenn dahinein der Namen eines Kindes gerufen wird, ist das die genaue Analogie zu dem alten Filmtrick die Erinnerung einer Figur durch wäßrig verschwimmende Überblendung darzustellen.

Ein beliebtes elektro-akustisches Kompositionsverfahren besteht im Collagieren von Klängen, Musiken und Geräuschen mit einem Sampler (hier bezeichnet das Wort ein Gerät zum Jagen und Sammeln von Klängen). Neil B. Rolnick kombiniert jugoslawische und bulgarische Volksmusik, verfremdet und kommentiert sie mit eigenen Sounds. Dabei gleicht er die Materialien in einer Weise an, daß sie eine Ehe eingehen können, etwas Neues und Eigenes darstellen können, ohne ihre Herkunft zu verleugnen.

Die mit Abstand originellsten Beiträge leisten die Komponisten, die nicht auf das normierte Gerät der Unterhaltungselektronikindustrie setzen, sondern unikate elektronische „Instrumente“ zusammenbauen oder vorhandenes Gerät auf innovative Weise mißbrauchen. Alvin Lucier steuert durch die enorm verstärkten Alphawellen seines Gehirnes ein ganzes Arsenal von Schlagzeuginstrumenten — hörbar gemachtes Gedankenspiel. Andy Guhl und Norbert Möslang erzeugen mit ihren „cracked everyday-electronics“ ebenso ungewöhnliche Klanglandschaften wie David Tudor mit seiner Billigelektronik. Lötkolben, Taschengeld und Know-how reichen zum Bau solcher Instrumente aus und wieder einmal will es scheinen als ob in der Kunst Aufwand und Ergebnis diametral gegenüberstehen.

An dieser Stelle zeigt sich die Schwäche von Samplern (hier ist wieder der Musterkatalog gemeint) die eben eine Auswahl und nicht selten nur Ausschnitte bringen: Die Poesie der Klänge von David Tudor entfalten sich im Prozeß, der sich zu berückenden Momenten auskristallisiert. Die vier Minuten auf der CD können davon kaum mehr als eine Ahnung vermitteln. Aber immerhin kann man mit diesem Sampler die Himmelsrichtung der Reise durch die „imaginären Landschaften“ besser bestimmen und Sackgassen vermeiden. Einige der weißen Flecken sind erst einmal beseitigt. Frank Hilberg

Imaginary Landscapes , New Electronic Music, Elektra Nonesuch 9 79235-2