INTERVIEW
: Kleinstadtnostalgie und egalitärer Konformismus

■ Der Soziologe Robert N. Bellah über Individualismus und Gemeinsinn in der US-amerikanischen Gesellschaft

taz: Warum sind Siegesfeiern in den USA so populär, wo es sich beim Krieg gegen den Irak doch eher um eine militärische Pflichtübung handelte und die aktuelle politische Lage in der Region nicht gerade Anlaß zur Euphorie gibt?

Bellah: Zunächst einmal bin ich nicht so ganz sicher, ob diese Siegeseuphorie noch so stark ist wie kurz nach dem Krieg. Grundsätzlich jedoch läßt sich das Phänomen mit der Befindlichkeit der Amerikaner während der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles vergleichen: Die Spiele wurden damals ebenfalls zu einer patriotischen Extravaganz hochstilisiert. Es gibt Einblick in das Bedürfnis der Amerikaner, irgend etwas zu haben, mit dem sie sich identifizieren können. Schließlich gibt es in diesem Land außer den Indianern keine wirklichen Amerikaner; und trotz aller Lippenbekenntnisse für den Pluralismus wird es angesichts von Konsumerismus und Fernsehen immer schwieriger, eine gemeinsame kulturelle Identität zu entwickeln. Deswegen haben wir im Vergleich zu den meisten entwickelten Gesellschaften diesen naiven Patriotismus, der sich immer dann äußert, wenn die USA einem Rivalen gegenüberstehen — sei dies bei der Olympiade oder im Golfkrieg.

Sollten wir dies dann vielleicht weniger ernst nehmen, als wenn nun plötzlich die Deutschen wieder Militärparaden abhielten?

Es gibt auch hier genug Gründe zur Beunruhigung. Das Problem heißt Manipulation. Mit jemandem wie Bush, der es versteht, Symbole politisch auszunutzen, stellt so etwas immer eine Gefahr dar. Aber grundsätzlich gilt hier die gleiche Analogie, die wir auch in unserem Buch Gewohnheiten des Herzens (Bund Verlag 1987) benutzen: das Bild von der Kleinstadt mit einer High School und einer Hauptstraße, in der der Erfolg oder Mißerfolg des Football-Teams für die Identität der ganzen Stadt von größter Bedeutung ist. Während des Golfkriegs haben sich große Teile unseres Landes mit den gelben Schleifen an Kirchen, Bäumen und Briefkästen in diese imaginäre Kleinstadt verwandelt, in der wir alle friedlich und vertrauensvoll zusammenleben — was wir selbstverständlich in der Realität nicht tun. Dies hatte ganz entscheidend mit dem Bedürfnis der Amerikaner nach Solidarität und Identität zu tun.

Diese Paraden sind vor allem als Dankbarkeitsbezeugung für die Soldaten und ihre Familien gedacht. Welches Verhältnis hat die Bevölkerung — historisch betrachtet — zu ihrem Militär?

Sie müssen immer daran denken, wie außergewöhnlich klein das Militär in unserer Geschichte gewesen ist. In den 30er Jahren hatten wir eine Armee von 100.000 Soldaten. Das erste Mal, daß diese Nation vor den beiden Weltkriegen mobilisierte, war anläßlich des Amerikanischen Bürgerkrieges, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Tradition ziviler Kontrolle ist hier sehr stark ausgeprägt. Obwohl es auch bei uns eine gewisse Romantisierung militärischer Helden gibt, die bis zur Revolution zurückreicht, war das Militär deshalb niemals zentrales Thema im Leben der Amerikaner, weil wir nie einen größeren Feind zum Nachbarn hatten.

Um so erstaunlicher, daß dieser militaristische Stolz jetzt förmlich überzuschäumen scheint...

Das ist weniger die Begeisterung über die Armee als der Schuldkomplex über die schlechte Behandlung der Veteranen des Vietnamkrieges; hier äußert sich ein Bedürfnis, eben das wiedergutzumachen.

Ist denn damit das Vietnam-Syndrom, wie George Bush gesagt hat, überwunden?

Selbst der naivste Amerikaner muß doch einsehen, daß dieser Sieg einfach zu mühelos war und gar nichts über die amerikanische Vormachtstellung in der Welt beweist. Damit etwas dauerhafte Bedeutung annehmen kann, bedarf es der Opfer. Während des Golfkriegs sind in den amerikanischen Innenstädten mehr junge Männer umgekommen als auf dem Schlachtfeld im Nahen Osten. All dieses Gerede über unsere wundervollen Soldaten und Helden: Was haben die denn anderes getan, als per Knopfdruck hunderttausend Irakis ins Jenseits befördert? Das war nicht gerade heroisch. Dieser Krieg hat uns nicht genügend Opfer gekostet, um in die Geschichte einzugehen. Ich mag hier zwar etwas zu optimistisch sein, aber wenn George Bush 1992 in seinem Wahlkampf noch einmal jeden Schuß dieses Krieges vermarkten wird, könnte das für ihn eine kontraproduktive Wirkung haben.

Noch aber scheint die Funktionalisierung der Armee als Vehikel für die Aufrechterhaltung des Kleinstadt-Mythos von der wunderbaren Gemeinschaft zu funktionieren.

Dieser Krieg hat unser Land symbolisch zusammengeschweißt. Aber erreicht haben wir doch nichts, was nicht auch durch Sanktionen hätte versucht werden können. Unser „Hitler“ in Bagdad ist immer noch an der Macht, wir haben im Irak ein großes Chaos hinterlassen, der Friedensprozeß zwischen Arabern und Israelis zeigt keine Erfolge, und die brennenden Ölfelder in Kuwait haben zu einer Umweltkatastrophe geführt. Wenn sich die Leute jetzt für ein solches Ereignis mit höchst zweifelhaften Folgen so begeistern können, zeigt dies nichts als die Leere in ihrem Leben.

Die Kleinstadtnostalgie, von der Sie sprechen, ging so sehr einher mit dem Zwang zur Konformität, daß selbst Zweifler meinten, ihre Briefkästen mit Rosetten schmücken zu müssen...

Das ist ja nichts Neues. So waren wir schon immer. Dieser Konformismus ist die negative Seite unseres ausgeprägten Individualismus. Schon Tocqueville stellte fest, daß man in einer Gesellschaft, die keinen Respekt für die staatliche Autorität kennt, um Antworten zu erhalten eben nicht nach oben schaut, sondern um sich herum. Das Ergebnis ist ein nicht von oben erzwungener, sondern eine Art freiwilliger, egalitärer Konformismus. Das bedeutet aber nicht, daß dieser Konformismus nicht von den Mächtigen orchestriert und manipuliert werden kann. Wie die McCarthy-Periode zeigt, handelt es sich um eine wiederkehrende Gefahr in unserer Gesellschaft. Interview: Rolf Paasch