DEBATTE
: Residenz Berlin?

■ Was für eine Rückkehr aus dem Bonner Exil sprechen könnte

Die „Sache“ sollte immer schon gelaufen sein, bevor den Beteiligten so recht klar war, was da überhaupt lief. Vielleicht ist die „Hauptstadtfrage“, die angeblich gar keine sein dürfte, deshalb zu einer geworden. Heute ist sie mit all dem geladen, was gestern die Wahlen vom 18. März pseudoplebiszitär und dann der Einigungsvertrag zentralbürokratisch längst aus dem Weg geräumt haben sollten.

Etliche unter sich disparate, in der Entscheidung über die Hauptstadt aber miteinander verknüpfte Widersprüche machen den beschworenen Konsens praktisch unmöglich. Da gibt es die Vorstellung, durch ungleichen Tausch die Gerechtigkeit zu fördern: Wenn für die ehemalige DDR-Bevölkerung real so viele Einheitsillusionen in die Brüche gehen, dann soll in ihrer Mitte mit der Hauptstadt wenigstens ein Symbol der Einheit errichtet werden. Und da gibt es die Vorstellung des nachholenden Neuanfangs: Wenigstens der Umzug nach Berlin soll einen Neuanfang simulieren.

Zwei gegenläufige schiefe Ebenen, das soziale Gefälle und das Revolutionsgefälle, sollen in der Waagerechten austariert werden. Das Übergewicht an Revolution soll mit dem Übergewicht an Wohlstand nach und nach ausgeglichen werden. Von wo sonst als von Berlin aus könne dieser schwierige Ost-West- Handel mit Realien und Zeichen, Stoff und Geist dirigiert werden? Auf der Ost-West-Schiene fährt auch das Argument, die Verlegung der Hauptstadt nach Berlin sei günstig für den europäischen Integrationsprozeß, dem Deutschland Mitte bilden und Brücken schlagen müsse.

Zu hören ist auch: Bonn stehe für jenen Provinzialismus, mit dem das größere Deutschland endlich Schluß machen müsse. In diesem vor allem in Westdeutschland und West-Berlin ausgetragenen Kampf zwischen Provinzialismus und Metropolismus tut sich der Graben nicht an Längengraden, sondern rund um das endlich wieder gefundene Zentrum zur erklärten Peripherie auf. Nicht weil Berlin in Ostdeutschland liegt, sondern weil es ein anderes Zentrum in Deutschland nie gegeben habe, wollen ihm die Metropoliten den Siegerkranz reichen. Damit sind wir schon beinahe auf der Widerspruchsebene von Föderalismus und Zentralstaat, und die kann nur bedingt auf der Ost- West-Linie lokalisiert werden. Die Rebellion der DDR-Bevölkerung war nicht nur gegen die Machthaber im Zentrum, sondern auch gegen das Zentrum selbst gerichtet und akzentuierte zugleich einen Nord-Süd-Widerspruch. Beide Widersprüche gab es auch relativ gedämpft in der alten Bundesrepublik. Der Widerspruch zum Zentrum würde in Westdeutschland mit Berlin erst einen Gegenstand erhalten. Mit Berlin als Hauptstadt wird aber auch der Widerspruch zwischen Nord und Süd neue Nahrung bekommen, im Osten wie im Westen. Berlin und Bonn stehen beide für Formen und Charaktere der Einheit von Deutschen. Die Bundesrepublik ist eine Neugründung in europäischer Absicht. Mit Berlin droht die untergegangene Form deutscher Einheit die Bundesrepublik in dem Moment einzuholen, als jene endgültig überholt schien. Die europäische Integration kam nur über die deutsche Spaltung in Gang. Über die europäische Integration sollte schließlich die deutsche Spaltung überwunden werden. Jetzt ist die deutsche Vereinigung in der EG das erste Ergebnis des Weges, der über Brüssel nach Budapest, Prag und Warschau geführt hat. Dieser Weg machte die DDR zur Exklave des sowjetischen Imperiums. Als dieses seinen Rückzug antrat, fiel deshalb als erstes die DDR — in die Bundesrepublik und die EG. Das lädt dazu ein, den Weg dahin zu vergessen oder als inzwischen überholten Umweg abzutun. Statt dessen soll es jetzt wieder über Berlin nach Warschau, Prag und Budapest gehen. Das ist nicht nur geographisch Unsinn. Historisch ist es blanke Narretei. Denn nur der Umweg über diese Städte hat die DDR nach Bonn und Brüssel geführt.

Vernetzung oder Zentralisierung

Andererseits: Was wäre aus Westdeutschland geworden, wenn sich für die Bundesrepublik nicht früh die Grenzen nach Westen, Süden und Norden geöffnet hätten? Sie konnte von Bonn aus nur zusammengehalten werden, weil sie die Möglichkeit hatte, sich in drei Himmelsrichtungen aufzulösen. Die erweiterte Bundesrepublik wird sich im Inneren nur dann als integrationsfähig erweisen, wenn sie beginnt, sich nun auch nach Osten aufzulösen. Dabei werden die wenigsten Wege über Berlin oder irgendein anderes Zentrum führen. Die Vorstellung von Berlin als Mitte und Brückenpfeiler Europas setzt ja immer schon den zur Mitte hin zentrierten Nationalstaat voraus. Der aber sprengte und sprengt Europa. Ein Deutschland, das sich nach Europa rundum öffnet, wird selbst keine Mitte und Metropole haben, sondern viele mehr oder weniger interessante Ränder, die zur Bildung europäischer Kräftezentren beitragen. Nicht zwei Städte stehen zur Entscheidung, sondern zwei Modelle der Einheit von Deutschen. Man könnte die Entscheidung ganz gelassen nehmen, wenn das föderalistische, sich mit den Nachbarn vernetzende Modell in der erweiterten Bundesrepublik hinreichend verankert wäre. Das aber war es noch nicht mal in der kleineren.

Schlechte Gründe für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin gibt es also mehr als genug. Sie werden nicht besser, wenn auf den erzieherischen Effekt Berlins verwiesen wird, der den altbundesrepublikanischen Sitzenbleibern einbläuen müßte, daß es mit der alten Bundesrepbulik genauso vorbei ist wie mit der DDR: Die Probleme der Integration äußerten sich an diesem Ort so konzentriert, daß sie einem ausholende Untersuchungs- und Denkarbeit abnehmen oder doch zumindest erleichtern. Berlins Eindruck fördere die Intuition, die andernorts gelähmt bleibe. So etwa der Tenor der wiederholten Rede von Klaus Hartung. Die Argumentation beinhaltet eine merkwürdige Verschiebung: Als käme es auf die Repräsentatitivät der Hauptstadt für den Staat an und nicht darauf, daß Parlament und Regierung die Bürger angemessen repräsentieren. Nicht wo deren Interessen repräsentiert werden, sondern daß sie, egal wo, präsent bleiben, ist wichtig, und jeder Ort, der sich als Hauptstadt wegen seiner besonderen Probleme und Perspektiven anpreist, ist als Hauptstadt einer repräsentativen, föderativen Demokratie denkbar ungeeignet. Deshalb haben solchermaßen organisierte Staaten niemals alte Residenzen übernommen, sondern sich eine Hauptstadt „erfunden“.

Populistische Kurzschlüsse

Die Verschiebung des Arguments ist so auffällig, daß man nicht umhin kommt, nach dem tieferen Gehalt zu fragen. Er ist aus dem Arsenal traditioneller Kritik an der parlamentarischen Demokratie geschöpft: Halten nämlich in Wirklichkeit nicht die gewählten Repräsentanten, sondern zentrale Apparate die Fäden in der Hand, dann stellt jede Erweiterung des Territoriums auch die Frage nach der Residenz neu. Hartungs Argument rechnet mit einem Kurzschluß zwischen populärem Problemdruck und Regierungshandeln, der in Berlin als zentralem Spannungsfeld die Bürokratie unter Strom setzen wird.

„Wenn du ein fremdes Territorium gewinnst, so verlege deine Hauptstadt dorthin“, meinte Machiavelli in den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Die 'FAZ‘ zitiert es als „Fundsache“. Der Rat galt dem aufgeklärten Fürsten. Wenn der kollektive aufgeklärte Fürst von heute die Zentral- und Ministerialbürokratie ist, dann tut „man“ ebenfalls gut daran, ihre Residenz ins „fremde Territorium“ zu verlegen. In unserem Fall bedeutete die Verlegung der Residenz ins „fremde Territorium“ sogar die Rückkehr aus dem unfreiwilligen Exil in den Ursprungsort.

Die Argumente für Berlin haben einen gemeinsamen Nenner im tiefsitzenden Ressentiment gegen die „Bonner Republik“, das sich aus linken wie rechten Quellen speist. Warum aber sollte um Gottes und Preußens Gloria willen aus dem „Untergang“ der alten Bundesrepublik in der neuen ausgerechnet Berlin als alte Residenz der Zentralbürokratie neu erstehen? Joscha Schmierer

Berichtigung: Kommentator Matthias Geis als auch die verantwortliche Redakteurin wissen, daß der im gestrigen Grünen-Kommentar erwähnte Ludger Volmer mit einem l geschrieben wird. Die Korrektur wußte es besser.

Der Autor ist Redakteur der 'Kommune‘